Unter dem schwarzen Bären

von: Karl Gutzkow

Jazzybee Verlag, 2019

ISBN: 9783849655648 , 371 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 0,99 EUR

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Unter dem schwarzen Bären


 

 


Die geographischen Grenzen des Kinderhorizonts dehnte nicht allein das neugierige Gelüst, sondern allmählich auch schon mancher glückliche Zufall oder eine besondere Gunst der Eltern aus. Da wurde ein neues aus Aken oder Trakehnen angekommenes Pferd eingeschirrt, ein andres für die Kabriolettfahrt eingeschult. Nun jagte der Vater um alle Tore Berlins. Man sah unbekannte Felder und Sandhügel, riesengroße Windmühlen, andere Stadttore, einsame, gräberbedeckte Kirchhöfe, ja in einiger Entfernung ragte sogar der Galgen auf. Jetzt ist er von der Eisenbahn und der neuen Strafgerichtsordnung wegrasiert.

 

Als der Knabe schon zur Schule ging, verführte ihn eines Tages ein Kamerad, zum Rosentaler Tor hinauszuwandern. Die Gegend war entlegen genug. Das Voigtland hatte den übelsten Ruf. Auf dem Wege dorthin lag ein niedriges altes Haus mit einem Türmchen – jetzt ist davon nur ein Denkmal, dem Begründer eines Armenhauses, Koppe, gesetzt, und die "Turmstraße" übriggeblieben. Das "Türmchen" stand in geheimnisvoller Wechselbeziehung zu dem westlichen Quadratflügel der Akademie. Zwischen dem Türmchen und der Akademie ging in stillem Abenddunkel ein polternder, dumpfhallender Karren. "Da bringen sie schon wieder einen!" sagte der Vater, wenn unterm Fenster um die neunte Stunde das Rollen des schauerlichen Wagens erklang. Dann war es ein Selbstmörder oder ein Hospitalit, der zur Anatomie vom Türmchen geliefert wurde oder, von der Anatomie schon geöffnet, zerschnitten und stückweise wieder zurück zum Türmchen gefahren wurde, um dort sein Grab zu finden. Diese unterm Fenster so nächtlich dahinrollende Chronik von stillen, lebensmüden oder verzweifelnden Entfernungen aus dem täglichen heitern Sonnendasein prägte sich schmerzensvoll dem Hörer ein. Der Vater "richtete" streng, die Mutter milde. Jener sah den Teufel vor dem Karren als lustigen Fuhrmann peitschen, diese blickte gen Himmel und sprach von Gottes Gnade.

 

Der vorwitzige, viel ältere Kamerad, der den Knaben zum Rosentaler Tor hinauslockte, behauptete, man könnte hier Einlaß finden, wenn man nur sagte, man wollte die "Leichen" sehen – an derselben Stelle, wo jetzt auf "Koppensplatz" die Kinder spielen. Schon klingelte der Mutige an einem großen, mit Nägeln beschlagenen Holztor.

 

Schlorrende Tritte ließen sich vernehmen. Eine Alte, anzusehen wie eine Hexe, öffnete und musterte die Jungen mit unheimlichem Auge. Als der Führer sein Begehren nach den "Leichen" herausstotterte, schnarrte die Alte die "vorwitzige junge Brut" an und sagte, "die Leichen" wären nur für Herrschaften zu sehen. Sie würde auch nicht die Übermütigen weiter gelassen haben, wenn nicht eine unterirdische Stimme gerufen hätte: "Den Kirchhof können sie ja sehen!" Die Stimme kam aus einem Keller im Hofe. Die Knaben schossen wie der Blitz auf den großen grünen Anger, der sich sogleich hinter einer halboffenen Tür frei und ausgedehnt darbot. Hier, wo jetzt ein freundlicher Square mit Bäumen und Brunnen liegt, rings hohe Häuser stehen, Ammen und Wärterinnen mit ihren Kindern verkehren, sah man einen baum- und blütenlosen Kirchhof. Da trocknete man Wäsche, Linnen wurden gebleicht. Zur Rechten lagen Gräber. Sie waren hie und da mit dünnem verbranntem Rasen bedeckt, doch alle namenlos, ohne Kreuze, ohne den Schatten eines Baumes, den Schmuck einer Blume.

 

Aber inzwischen waren "Herrschaften" gekommen, um "die Leichen" oder, wie sie jetzt hießen, die "Muhmen" zu sehen, "Mumien", wie erst in späteren Jahren verstanden wurde. Die Mumien des Türmchens in der Hospitalstraße waren ausgedörrte, nicht verweste alte Leichname. Wir Knaben schlossen uns schnell an. Der Totengräber öffnete einen Keller, in diesem einen alten Sarg und zeigte auf zwei braunlederne, wie von Wäscherinnenhand zusammen "gewrungene" große Lappen, die einst Menschen gewesen sein sollten. Beklommen und doch neugierig traten die Knaben näher und schüttelten sich vor Entsetzen über Menschen, die man wie gefrorne große Waschlappen hätte aufgreifen und sich damit jagen können. Der Totengräber versicherte wenigstens, diese "Muhmen" wären so leicht wie "Flederwische". Nach Entrichtung eines Trinkgeldes von seiten der "Herrschaften" wurde der Rückzug angetreten.

 

Nun ging's zum Rosentaler Tor hinaus. Wie ging es an ein Ausmalen des Geschenen! Die Mumien wurden jetzt die schönsten und gefälligsten Gestalten von der Welt und noch "wie lebendig". Der Schauer, sie gesehen zu haben, wurde ins Großartige übertrieben. Da war man denn, wie unwissentlich und gut vorbereitet, am Galgen angekommen. Noch kürzlich war auf ihm ein Mörder, namens Jakobi, "gerädert" worden. Ja, in Wahrheit, man nahm das Ermorden anderer Menschen früher ernster! Auge um Auge, Zahn um Zahn! Die Statistiker sagen die Unwahrheit, wenn sie durch Zahlen beweisen wollen, die Todesstrafe schrecke nicht ab.

 

Der Galgen stand einige Schritte von der Scharfrichterei entfernt. Auf einem steinernen Unterbau erhoben sich drei hohe Balken, die oben zu einem Dreieck vereinigt waren. Ringsum lagen die Korn- und Kartoffelfelder mit blauen und roten Blumen, die Lerchen jubelten, nichts sah man von Raben oder anderm Galgengeflügel. Der Kamerad war vorwitzig. Er forderte seinen jüngeren Gefährten auf, mit ihm die steinerne Plattform zu besteigen. Da jedoch bei diesem die vom Vater mit der ihm eigenen Lebhaftigkeit der Schilderung wacherhaltene Erinnerung an den geräderten Jakobi zu abschreckend war, so ging der Verführer allein, ungeachtet ihn der Jüngere angelegentlichst bat, den Frevel zu unterlassen. Der Freund verlachte alle Bedenken, sprang auf die steinernen Stufen und rief wie ein Essenkehrer aus seiner Schornsteinluke heraus ein prahlendes, lautschallendes Hoho! mitten auf dem Galgen, an derselben Stelle, wo Jakobi gerädert wurde. Dann sprang er mit einemmal hinunter. Es mußte ihm etwas in die Quere gekommen sein. Nicht die Vorstellung seines ominösen Beginnens schien es gewesen zu sein, sondern der volle, gewaltige Rundblick über alle diese Felder, Windmühlen, Häuser, Türme hinweg. Er hatte prahlend und laut sprechen wollen. Da blieb er stecken wie einer, der "vom Platze" ganz sicher spricht, aber "von der Tribüne aus" sich nicht sammeln kann. Louis wurde auf dem Heimweg einsilbig. Lange hat sein zaghafterer Gefährte das Gefühl nicht bemeistern können, daß sein Freund von dieser Versuchung noch etwas davontragen würde. Er geriet in der Tat auf irrende Bahnen, wurde ein wilder Bube, der seinen Eltern trotzte, sie sogar schlug. Immer dachte sein früherer Kumpan an das herausfordernde Hoho! auf dem Galgen und wagte nicht, davon anderen, die dem Wildling ein schlimmes Ende prophezeiten, zu erzählen. Aber die Orakel lügen. Louis wurde Schlosser, trat in die Königliche Eisengießerei vorm Oranienburger Tor als Maschinenarbeiter und brachte es durch Talent und geändertes Betragen bis zum Ziseleur. Leider verhob er sich an einem schweren Eisenblock und fing trotz seiner Riesennatur zu kränkeln an. Seine allgemein anerkannten Verdienste erwarben ihm dennoch eine Berufung nach Schlesien auf die Zinkwerke des Grafen Henckel. Louis wurde einer der zuverlässigsten, bravsten Werkführer, heiratete, tat Gutes, auch an seinen früher von ihm geschlagenen alten Eltern, die ihm vergeben hatten, siechte jedoch hin und starb in der Blüte seiner Jahre.

 

Wir übersprangen einen längeren Zeitraum – (im ersten Kindesleben zählt ein Jahr für zehn, im Jüngling ein Jahr für fünf, im Mann eins für eins, im Greise ein Jahr kaum noch für drei Monate) –, zurück also zur ersten, halb bewußtlosen Altersstufe!

 

Die Gegend vor dem Oranienburger Tor war die früheste sichere Eroberung des jungen Kolumbus. Vom unheimlichen Voigtland, der damaligen Höhle des Pauperismus, zogen sich einsame, endlos scheinende Sandflächen bis nach Tegel hin, wo die Geister der Wöllnerperiode "dem dicken König" Mut zu religiösen Reaktionen eingespukt hatten. Da lag der Gesundbrunnen und eine Saharawüste, die man den Wedding nennt, auf dessen tief im Sande angelegten Laufgräben, Schanzen, kleinen Belagerungsforts die Artillerie zu exerzieren pflegte und jährlich an jedem dritten August oder "Königsgeburtstag" ein Feuerwerk abbrannte, bei dessen Licht-und Farbenzaubern, Kanonenschlägen, Transparentinschriften der Bruder des Bombardiers, spätern Unteroffiziers, Feuer- und Oberfeuerwerkers nicht fehlen konnte, so sehr ihm dabei vor Müdigkeit beinahe die Glieder zusammenbrachen. Auch die Nordwestseite Berlins wurde erforscht. Überall, wo jetzt neue Straßen und Stadtviertel erstanden sind, lagen sonst Wiesen, Hecken, Kornfelder, Holzhöfe und teilweis innerhalb der Ringmauern der Stadt. Er bewunderte einen "Apollosaal", das schwache erste Vorbild der jetzigen Tempel bacchantischer Lust. In der Nähe erhob sich an der Panke die erste Anlage jener Königlichen Eisengießerei, die den Anfang eines ganz dem Maschinenwesen gewidmeten Stadtviertels bildete. Immer unruhiger wurde es um die stille Zurückgezogenheit des dem Laeso, sed invicto militi gewidmeten Hauses, wo Friedrichs des Großen Invaliden ihre hölzernen Beine im Sonnenschein ausstreckten oder wohin sie vom Betreiben einiger Gewerbe zurückkehrten, die sie in der Stadt, wenn auch blind oder einarmig, betreiben durften, z. B. den Handel mit Binsen zum Ausräumen der Pfeifen. Da lag die schreckenerregende "Charité", das große von Friedrichs des Großen Vater so benannte Krankenhaus, das dem Volke wie alle Krankenhäuser gleichbedeutend mit dem Vorzimmer des Todes war und auch darum dem Kinde so schreckhaft erschien, weil die Sage ging, seine Toten würden in "Nasenquetschern" begraben. So nannte das Volk...