Aus der Knabenzeit

von: Karl Gutzkow

Jazzybee Verlag, 2019

ISBN: 9783849655679 , 250 Seiten

Format: ePUB

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Mehr zum Inhalt

Aus der Knabenzeit


 

 


 

Es hat zahllose Menschen gegeben, die auf untern Lebensstufen standen und doch dem Auge seltene und zuweilen verhältnismäßig ganz wunderbare Kräfte der Seele und Eigentümlichkeiten des Herzens verrieten.

 

Die gewöhnliche Lebenschronik eines Gebildeten ist meist monoton. Dagegen gibt es Tausende von Entwicklungen, die sich nur im niedersten Striche des Strebens hielten und doch nie so dumpf oder bewußtlos auf plattem Boden hinkrochen wie die Lebensmomente der bevorzugten Klassen, die nur aus Vergnügen und Gähnen bestehen.

 

Aber auch der Bauer, der deutsche Handwerker, welcher letztere seinen Auerbach oder Jeremias Gotthelf noch sucht, steht an Reiz zurück gegen gewisse Erscheinungen der Mittelsphäre, des Kaufmannstandes, des abenteuernden Unternehmers und der dienenden Klassen. Eine Bauersmagd auf dem Dorfe ist bald erschöpft in dem Wert, den sie für den Menschenforscher oder Dichter beanspruchen kann, oder man müßte denn bei der Schilderung ihrer Lebensverhältnisse übertreiben, künstlich hinzusetzen, Unmögliches, wie seither genug geschehen, mit rosigsten, saubersten Aquarellfarben, die hier so selten passen, darstellen. Aber eine Bauersmagd, die zum Dienen in die Stadt kommt, eine andere, die nach einem Fehltritt den Ort, wo zu leben sie sich schämen muß, verläßt, sich als Amme verdingt und aus wunderlichen und verschnörkelt-verworrenen Lebensverhältnissen oft nicht wieder herauskommt, regt das ganze Interesse an, das wir den Abenteuern der spanischen Schelmenromane schenken, wo die Gil-Blas oft gescheiter und bedeutsamer sind als die Prälaten und Hidalgos, die sie zu bedienen vorgeben. Manche Staatsaktion ist geeignet, eher auf die »Gran Tacanos« (die Erzschelme) als die Alberonis zurückgeführt zu werden.

 

An Begegnungen mit solchen wunderlichen Erscheinungen war die Jugend des Knaben ausnehmend reich. Seine Familie stammte väterlicherseits aus Pommern. An Pommerns und der Uckermark Grenze liegen die Ortschaften Löcknitz, Klempenow, Dorotheenwalde. Sie müssen den ganzen Charakter der dortigen Landschaft tragen, müssen umgeben sein von feuchten, fruchtbaren Sumpfstellen (»Bruche« genannt) und müssen walddurchwachsen sein.

 

Denn so lebt diese grüne Urheimat in des Knaben Gedächtnis. Die Vorfahren müssen nichts Gewöhnliches gewesen sein. Kenner der pommerschen Geschichte wissen sogar, daß die Grafen Gutzkow die bekannte Stadt gleichen Namens gründeten, die jetzt zu Mecklenburg gehört, Greifswald und Stralsund anlegten und eine Zeitlang Rügen beherrschten. Die Grafen Gutzkow kamen mit den Ottonen, denen Pommern sein Christentum verdankt, aus Franken, sind auch kein slawisches Geschlecht gewesen. Sie ritten schon im neunten Jahrhundert beim Magdeburger ersten Turnier ein; dann wurden sie brandenburgische Amtshauptleute in Stendal und Salzwedel. Von dort die Elbe überschreitend, bekämpften sie die Reste des obotritischen Heidentums, wurden in Pommern lehnspflichtig, blühten bis in die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, sahen sogar, daß die große Königin Margareta, die alle drei Kronen Skandinaviens zugleich trug, eine Enkelin aus ihrem rügischen Stamme war, und verloschen mit unverheirateten Frauen und Geistlichen. Der Schild des altdeutschen, nicht slawischen, ursprünglich Gutzgauch (Kuckuck) geheißenen Geschlechts, zwei gekreuzte Knochen mit vier Rosen in den Winkeln, kam mit dem Lehnheimfall ins pommersche Wappen, dann ins königlich preußische, wo es lange zu sehen war. Jetzt ist letzteres an Schilden so reich, daß auf den neugeprägten Talern die Erinnerung an die Grafen Gutzkow nicht mehr vorkommt.

 

Auf Wollin an der Ostsee führen die ersten Familiennachrichten zurück. Einer dieser, wie so viele mit den Ottonen nach Norden eingewanderten fränkischen Adligen und nur im Namen slawisierten Grafen war selbst Bischof. Der Vermutung, daß eine Zölibatübertretung ein bürgerliches Bastardgeschlecht des Namens erzeugte, entspricht das stete Leben der weiter verfolgbaren Ahnen in der Nähe der Kirchen – nicht als Bauer oder »Kossäten« (Kotsassen, Beihufner), sondern als Schreiber und Schulmeister. Wäre der alte Graf Moor in den »Räubern« Bischof gewesen, er hätte seinem Bastard Hermann gewiß einen Küsterdienst verschafft. Der Kuckuck, der von Walter von der Vogelweide und allen Dichtern des Mittelalters wie die Nachtigall gepriesene Gutzegauch (der Name des holländischen Malers Koeckoeck kommt euch weniger komisch vor, die ihr doch an die Grafen Taube und Fink und Geyer gewöhnt seid), singt das monotone Lied von Armut und Entbehrung in dem verkommenen Geschlecht.

 

Gerichtsschreiber, Schullehrer, Küster sind armuts-und kindergesegnete Lebensstände. Der Großvater war anfangs Patrimonialgerichtsschreiber in einer Zeit, wo zu den erlaubten Justizmitteln der ländlichen Gerechtigkeitspflege noch ein großes, dem Kinde oft geschildertes Faß gehörte, in dessen einen Boden ein Loch geschnitten war, groß genug, um den Kopf des Inquisiten hindurchzulassen, während die Beine durch zwei entsprechende Löcher im anderen Boden hinlänglich Kraft zur langsamen Bewegung behielten. Der Großvater, erst Protokollant irgendeines pommerschen Don Holzapfel und seines juristischen Beisitzers Magister Schleewein, wurde »ob schwächlicher Gesundheit« Schullehrer »wie auch« Küster in Löckenitz, Klempenow oder »Dortenwalde«. Früh gestorben, hinterließ er, wie eben Schullehrer sterben, ein liebevolles Andenken und das Elend der Seinigen. Diesen Großvater überlebten die kranke bettlägerige Witwe und zwei unmündige, kräftige, des Vaters »schwächliche Gesundheit« nicht dokumentierende Knaben. August und Karl rangierten als Schulmeisterwaisen mit den Vögeln unter dem Himmel. Aber die Engel kamen von ebendiesem Himmel und erweichten die Herzen, daß sie ihre Mehlkästen aufschlossen und ihre Fleischtöpfe öffneten und mitten in unsere Zivilisation hinein keine Hungerleichen duldeten.

 

Die Invaliden Friedrichs des Großen, denen die Schulranzen der Dorfjugend das Gnadenbrot zutragen durften, hatten doch noch eine kleine Pension für einen bei Leuthen verstümmelten Fuß; aber ein Schulmeister, der so seines Wissens und wirklichen Könnens wegen von der Schreiberbank weggenommen wurde, ein kalligraphischer Dorfgelehrter, hinterläßt seinen Kindern Regen und Schnee, Sturm und »Schlack«-Wetter, Zittern und Frieren auf der Heide, wenn sie reihherum bei den vermöglicheren Bauersleuten die Kost bekommen und wandern müssen tagein, tagaus von Löckenitz nach Klempenow, von Klempenow nach Dortenwalde, pochen müssen an Gehöft und Amtshaus und Jägerhütte und Müllerhof, und abends, wenn ihnen die Engel durch das Herz guter Leute noch für die ewiglich aufs Bett gebannte Mutter Brot, gedörrtes Obst, Eier, Speck mitgegeben, weit, weit damit nach Hause zurücktrollen müssen. Da war kein Wind, kein Regen, kein Schnee, kein Frost, der diesen beiden Schulmeisterwaisen einmal gesagt hätte: »Ihr bleibt heut am warmen Kachelofen! Der Bauer hier duldet euch!« Die Bauersfrau gäbe gern noch sonntags vor dem Bettgang Eierbier und einen brennenden Kienspan, um ihr aus dem Pommerschen Gesangbuch ein Lied vorzulesen mit dem kindlichfrommen Stimmchen – die Jungen mußten durchaus zur kranken Mutter zurück mit ihren eroberten Brosamen. Denn sie konnte nicht einschlafen, wenn sie nicht die Jungen gesehen, ihnen den Abendsegen abgehört und jeden Morgen das flachsblonde Haar gestriegelt hätte von ihrem Bett aus.

 

Es war eine in ihrer Art gebildete Frau, diese kranke Schulmeisterwitwe. Alle liebten sie und gaben ihr und den Jungen. Im Novembersturm und Jännerschnee, in Julihitze oder Augustgewitter aßen ihre Söhne bei einem Pfarrer, einem Jäger, einem Müller, einem Amtmann, drei bis vier Erbpachtbauern. Letztere waren jene stattlichen fetten Bauern mit den silbernen Talerreihen auf den langen Röcken, die damals nach Berlin oder Stettin ihren Roggen, ihren Weizen, ihre Wolle oder ihre Gänsebrüste selbst einfuhren.

 

Daher kam's nun auch, daß der Vater des Knaben so wunderbar erzählen konnte. Scheherezade hätte an ihm ihren Meister gefunden. Sein Erzählen war kein bloßes Berichten von Allgemeinheiten, Erinnern an Unbestimmtheiten, alles war Leben, die Wirklichkeit selbst, handgreiflich die Tatsache vors Auge gerückt; nun sieh dich satt und vergiß dich selbst darüber! Wie käme es anders, daß der Knabe das nie gesehene, autochthonische, spickaal- und gansbrustgesegnete Urland der Pommern kennt wie den Rhein oder seine Tasche!

 

Säen, ernten, heuen, dreschen, das konnte auch die Umgebung Berlins, ja Berlin selbst lehren, in dessen Ringmauern damals noch gesät, geerntet, geheuet und gedroschen wurde wie auf dem flachen Lande. Aber du treues Pommerland, das du gar zu langsam und bedächtig dem Geist der Zeit nachschleichst, woher lebt denn der abtrünnige Halbpommer wie leibhaftig in jenen »Bruchen«, die soviel Heu für die Rindviehzucht abwerfen, sieht im Geiste diese Scharen von Gänsen, die »mit den Flügeln jauchzend«, wie Homer singt, deine Stoppelfelder wie weiße Linnen bedecken und winters mit ihren geräucherten Brüsten die Tafeln der Kenner schmücken?

 

In des Vaters Schilderungen glänzte das dem Pommerland nahegelegene Boitzenburg, die Stammburg der...