Wilde Pfade - Mit der Kraft der Natur zu einer neuen Mensch-Hund-Beziehung

von: Raoul Weber

Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, 2020

ISBN: 9783440501221 , 192 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 13,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Wilde Pfade - Mit der Kraft der Natur zu einer neuen Mensch-Hund-Beziehung


 

Ein ziemlich gutes Team – von Natur aus


Seit Urzeiten laufen Mensch und Hund Seite an Seite durchs Leben. Wissenschaftler vermuten, dass dies schon seit ungefähr 35 000 Jahren so ist. Eine wahnsinnig lange Zeit also. Jahrtausendelang streiften sie gemeinsam durch das Grasland und die Wälder unserer Erde und meisterten all die Herausforderungen, die ein Leben in der Natur unweigerlich mit sich bringt.

Dass der Hund vom Wolf abstammt, ist längst bewiesen. Vermutlich streiften damals einzelne Tiere oder ganze Rudel um die Lager der Menschen und folgten ihnen, wenn sie als Nomaden weiterzogen und dem Lauf der Natur folgten. Für unsere Vorfahren war es dabei (überlebens)wichtig, stets Augen und Ohren offen zu halten. Ob das frühzeitige Erkennen einer vermeintlichen Gefahr oder einer sich bietenden Gelegenheit, an Nahrung zu kommen: Wer in der Natur zuhause ist, geht mit wachen Sinnen durchs Leben. Und so wird es den Menschen damals auch nicht entgangen sein, dass uns Wölfe in ihrem Sozialverhalten sehr ähnlich sind. Übrigens viel mehr als Schimpansen, unseren nächsten Verwandten. Diese Erkenntnis ist also uralt. Kurioserweise scheint sie heutzutage dennoch vor den Türen vieler Haushalte, in denen ein Hund lebt, haltzumachen. Fast so, als stünde hier ein Schild mit der unmissverständlichen Ansage: »Ich muss draußen bleiben!« Schade, denn würden wir uns noch stärker bewusst machen, wie sehr wir in vielen Dingen unserem Hund ähneln, könnten wir viel mehr über ihn erfahren. Ihm sogar ein kleines bisschen in die Seele schauen. Ob es die Angst vor dem »Vermenschlichen« ist, dieses absolute No-Go, das jedem von uns schon am ersten Tag seines Hundehalterlebens eingebläut wird, die uns daran hindert? Kann gut sein.

Für die Wölfe damals hatte das Leben in der Nähe der Menschen viele Vorteile. Zum Beispiel Nahrung durch die anfallenden Essensreste oder Schutz vor Bären und fremden, rivalisierenden Wölfen. Schließlich betritt jeder, der weite Strecken in der Wildnis zurücklegt, früher oder später das Revier eines anderen. Für die dem Menschen folgenden Wölfe eine durchaus gefährliche Situation. In der Nähe des Menschen zu bleiben war also eine gute Idee und zeigt, dass sowohl das Treffen kluger Entscheidungen als auch das Schmieden von Allianzen keineswegs eine Erfindung der Menschen ist.

Die Augen der Wölfe


Ein Sprichwort der nordamerikanischen Ureinwohner lautet: »Die Raben sind die Augen der Wölfe«, und beschreibt damit eine uralte Allianz: Entdecken Raben ein verendetes Tier, machen sie die Wölfe durch ihr Verhalten darauf aufmerksam. Denn Raben haben oftmals Probleme, bei einem noch unversehrten Kadaver an das Fleisch zu kommen. Mit ihren Schnäbeln haben sie kaum eine Chance, die teils dicke und unversehrte Haut des Tiers zu durchdringen. Sie benötigen Hilfe und wissen die Fähigkeiten der Wölfe hier wunderbar für sich zu nutzen: Spätestens wenn diese ihr Festmahl beendet haben, beginnt das der Raben. Auf der anderen Seite bleibt dort, wo Wölfe erfolgreich jagen, stets auch etwas für die Raben übrig. Sie müssen Isegrim einfach nur auf seiner Jagd begleiten und geduldig abwarten. Eine Win-win-Situation also. Doch damit nicht genug. Denn Raben entdecken natürlich nicht nur verendete Tiere, sondern auch potenzielle Feinde. Hoch oben in den Baumkronen sitzend oder am Himmel kreisend, erkennen sie beispielsweise sich nähernde Berglöwen oder Grizzlybären weitaus früher als Wölfe. Gewarnt durch das rabentypische, laute und scharfe »Kraaa« haben diese im Fall einer drohenden Gefahr genug Zeit, ihren Nachwuchs in Sicherheit zu bringen. Übrigens eine Taktik, die auch der Mensch irgendwann übernommen hat: Die Jäger vieler indigener Kulturen wissen noch heute die Sprache der Vögel zu nutzen, um erfolgreich ein Tier aufzuspüren oder einer Gefahr rechtzeitig aus dem Weg zu gehen.

Die Zusammenarbeit von Wolf und Rabe ist jedoch weitaus mehr als eine Symbiose, wie sie oft in der Natur zu finden ist. Zwischen ihnen kann eine individuelle, dauerhafte und stabile Beziehung entstehen. So fand man heraus, dass sich Wölfe mitunter sogar mit Raben sozialisieren. Das bedeutet, dass die Wolfswelpen schon früh, innerhalb einer prägeähnlichen Phase, Kontakt zu »ihren« Raben haben und sie als eine Art Familienmitglieder betrachten. Und auch der Rabennachwuchs lernt beizeiten, dass die vierbeinigen Nachbarn »dazugehören« und von ihnen keine Gefahr ausgeht – vorausgesetzt, man übertreibt es nicht mit der nachbarschaftlichen Nähe. Denn Raben sind eben Raben und lieben es, mit den jungen, noch unerfahrenen Wölfen zu spielen. Dabei schnappen sie im Flug nach den Ohren ihrer vierbeinigen Spielgefährten, ziehen an den Ruten oder stibitzen kurzerhand den Lieblingskauknochen. Die kleinen Wölfe wiederum versuchen mit einem nicht enden wollenden Eifer, sich an die am Boden sitzenden Raben heranzupirschen und diese zu fangen – mit mäßigem Erfolg.

Dass es in der Natur zu artübergreifenden Kontakten kommt, ist nicht ungewöhnlich. Es wäre also nichts Außergewöhnliches, dass vor Urzeiten der eine oder andere Wolf auf die Idee kam, sich etwas näher mit dem Menschen zu beschäftigen. Dass dies keine graue Theorie ist, zeigt uns ein Ereignis der etwas jüngeren Geschichte:

Ein Rendezvous mit Romeo


Im Winter 2003 trafen Naturfotograf Nick Jans und seine Labradorhündin Dakota hinter ihrem Haus in der Nähe von Juneau/Alaska auf einen Wolf. Als Dakota begann, auf den Wolf zuzugehen, konnte Nick nur hilflos zusehen. Damals wusste er es noch nicht, aber dieser Tag war der Beginn einer Freundschaft, die nicht nur alte Vorurteile beseitigen, sondern auch eine ganze Stadt auf den Kopf stellen sollte. Denn was er sah, war geradezu unglaublich: Dakota forderte den Wolf zum Spielen auf – und der ging darauf ein. Beide spielten eine ganze Weile ausgelassen im Schnee, bis das Tier wieder in den nahen Wäldern verschwand. Aber es dauerte nicht lange, da kam Romeo, wie er mittlerweile von Nick genannt wurde, zurück und das Spiel begann von Neuem. Die Anwohner, die mit der Zeit Wind von dieser außergewöhnlichen Freundschaft bekamen, trauten Romeo anfangs nicht. Zu tief saßen Vorurteile und Misstrauen gegenüber Wölfen. Im Lauf der Zeit bemerkten sie allerdings, dass Romeo ein außergewöhnlicher Wolf war und von ihm keinerlei Gefahr auszugehen schien. Immer mehr Menschen kamen mit ihren Hunden zum »Mendenhall Glacier Park«, in dem sich Romeo die meiste Zeit aufhielt, wenn er in der Stadt war. Und alle Vierbeiner spielten mit Romeo. Hin und wieder spielte er sogar mit Menschen, indem er ihnen Gegenstände brachte, die sie werfen sollten, damit er sie apportieren konnte. So ging es gut sechs Jahre, bis Romeo im Jahr 2009 durch die Kugel eines Jägers starb. Die Menschen aus Juneau werden diesen außergewöhnlichen Wolf nie vergessen und eine Gedenktafel erinnert heute jeden Besucher daran, dass Wölfe hin und wieder auch Herzen rauben.

Eine schöne und bewegende Geschichte, oder? Leider wäre sie hierzulande undenkbar und Romeo wäre höchstwahrscheinlich nach kürzester Zeit tot. Denn die Bürger von Juneau zeigten ein Verhalten, vor dem Experten in Deutschland eindringlich warnen: Bitte nimm niemals Kontakt zu einem wilden Wolf auf! Er könnte dadurch die Scheu vor Menschen verlieren – und das führt leider meist dazu, dass er erschossen wird. Ein trauriges Beispiel lieferte uns vor wenigen Jahren der Wolf MT6, vielen sicher besser bekannt als Kurti.

Ein Wolf namens Kurti


Kurti war der erste Wolf Deutschlands, der mit behördlicher Genehmigung getötet wurde. Er zeigte ein auffälliges Interesse an Menschen und näherte sich ihnen mehrmals bis auf wenige Meter. Dabei soll er auch eine Frau mit Kinderwagen verfolgt und deren Hund gebissen haben. Obwohl dieser Vorfall niemals zweifelsfrei belegt oder genau analysiert wurde: Die Politik entschied, dass Kurti sterben muss. Obwohl ihm zuvor durch den hinzugezogenen Wolfsexperten Jens Karlsson vom »Swedish Wildlife Damage Centre« in Grimsö ein ausgeprägtes wolfstypisches Fluchtverhalten attestiert wurde. Viele Fachleute stritten darüber, ob diese, in erster Linie politisch motivierte, Entscheidung richtig war, und zerbrachen sich den Kopf darüber, wie es überhaupt zu diesem außergewöhnlichen Verhalten kommen konnte. Schließlich gelten gerade europäische Wölfe als recht scheu – besonders gegenüber dem Menschen. Verständlich, war er es doch, der sie all die Jahrhunderte über verfolgte.

Es wurde zwar nie zweifelsfrei bewiesen, doch nach Sichtung einiger im Nachhinein aufgetauchter Fotos und Handyvideos geht man inzwischen davon aus, dass Kurti, der mit seinen Geschwistern auf einem Truppenübungsplatz der Bundeswehr aufwuchs, vermutlich dort in jungen Jahren durch Soldaten angefüttert wurde und so seine Scheu vor Menschen verlor. Dies war sein Todesurteil. Dabei tat Kurti nur das, was seine Vorfahren schon vor Jahrtausenden taten und damit ihren unverzichtbaren Anteil dazu beitrugen, dass wir heute mit unseren Hauswölfen durchs Leben gehen dürfen: Kontakt zu uns Menschen aufzunehmen. Geschichte ist leider nicht immer dankbar.

Wann, wie und warum vor so langer Zeit der Grundstein für diese wunderbare Verbindung von Mensch und Hund gelegt wurde, wissen wir nicht. Wir können nur Vermutungen darüber anstellen und werden es wohl nie ganz erfahren. Das mag den Ehrgeiz einiger Wissenschaftler anspornen, auch dieses Geheimnis der Natur zu entlocken. Mir persönlich ist die Antwort auf diese Frage nicht sonderlich wichtig. Egal, wer den ersten Schritt tat, wann genau dieser Pakt geschlossen wurde und aus welcher Motivation heraus dies geschah: In erster Linie bin ich dankbar und froh, dass es so gekommen ist. Und wer weiß? Vielleicht war alles ja...