Per Handschlag Mord

Per Handschlag Mord

von: Sibylle Luise Binder

Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, 2020

ISBN: 9783440501863 , 368 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Per Handschlag Mord


 

PROLOG


Ich bin sauer. Mein Allegro ist stocklahm und wenn er Pech hat, wird er nie wieder klar gehen. Und er hat Schmerzen. Ich taste sein geschwollenes Bein ab, er zuckt zusammen. Brav, wie er ist, zieht er es trotzdem nicht weg, aber er zittert.

Ich würde ihn ja gerne in Ruhe lassen, aber ich muss erst eine Salbe auf die Wunde schmieren, die der verflixte Draht hinterlassen hat. Wenn ich an den denke – Allegro hat noch Glück gehabt, dass er sich »nur« das Bein angeschlagen hat. Er hätte sich bei dem Sturz über den Trakehnergraben auch den Hals brechen können – und ich gleich mit.

Das war wohl der Zweck der Übung. Die Herrschaften wollten mich ausbremsen. Sie wollten mich kaltstellen, damit ich aufhöre, herumzuschnüffeln und Fragen zu stellen.

Dass diese Aktion mich das Leben hätte kosten können, nahmen sie in Kauf. Auf ein Menschenleben kommt es ihnen nicht an, wie sie schon bei Carina Müllerschön bewiesen haben. Aber dass sie dabei auch ein Pferd über den Jordan schicken würden – das kann ich nicht fassen.

Es macht mich wütend. Dass Allegro auf drei Beinen im Stall steht – ich könnte platzen vor Zorn! Ich möchte etwas unternehmen, ich möchte mit den Fäusten gegen die Wand schlagen, ich möchte diese Kerle in die Finger bekommen und ihnen die Stiefelspitze dahin stellen, wo’s einem Mann wirklich weh tut. Und eines weiß ich ganz sicher: Wenn die glauben, dass sie mich durch einen Sturz über ein Hindernis ausschalten können, dass ich mich danach zitternd vor Angst hinter die dicken Mauern von Burg Waldeck verziehe und Titus bitte, die Zugbrücke hochzuziehen – die wir übrigens auf Waldeck gar nicht mehr haben! –, liegen sie falsch. Jetzt erst recht – jetzt folge ich dem Spruch meines Großvaters, der über einen besonders widerlichen Menschen urschwäbisch sagte: »Bei dem isch he net g’nug! Da muss no a Fuß raus!1

Mein Kopf dröhnt, wenn ich mich vorwärts beuge wie jetzt über Allegros Bein. Außerdem muss ich ein Auge zukneifen, um nicht doppelt zu sehen. Ich bin froh, dass Allegro jetzt versorgt ist und ich mich aufrichten kann. Tut allerdings auch weh – mein Brustkorb schillert links in allen Regenbogenfarben und ich habe den alten Professor Möbius im Ohr, der damals predigte: »Nehmt Prellungen nicht zu leicht. Sicher, sie hinterlassen keine Schäden, wenn sie Zeit zum Abheilen bekommen. Aber sie schmerzen ganz fies.«

Stimmt. Die Prellung tut weh und wenn ich ehrlich sein soll: Mir geht’s mieser als ich gegenüber meinen Lieben zugeben will. Mich so matschig zu fühlen und so sehr das Bedürfnis nach »in die Ecke legen, zusammenrollen und ein bisschen heulen« zu haben, passt nicht zu meinem immer eifrig gepflegten Image als »Super-Max«.

Es hilft aber nichts. Die nächsten Tage muss ich Ruhe geben und mich schonen. Ich habe zwar in Tiermedizin promoviert, aber es hat sich sogar schon zu mir herumgesprochen, dass man eine Gehirnerschütterung beim Menschen am besten durch Ruhe kuriert. Ansonsten muss der Patient mit Spätfolgen wie zum Beispiel migräneartigen Kopfschmerzen rechnen – und das brauche ich nicht.

Also werde ich Allegros weitere Versorgung Paula überlassen. Sie ist als künftige Pferdewirtin Zucht-und-Haltung-Azubiene auf Gestüt Waldeck. Sie hat gemistet und gestreut, nun fegt sie den Stallgang. Ich streichle Allegro über den Hals und schaue aus der Box nach draußen. »Paula, haben Sie einen Moment für mich, wenn Sie fertig sind?«

»Bin schon fast so weit!« Paula schiebt eine Schaufel unter den Staub-Strohberg, den sie zusammengekehrt hat, lädt ihn auf und kippt ihn in die Schubkarre am Eingang. Dann hängt sie Schaufel und Besen im Stalleingang hinter die Tür und kommt auf ihren langen Beinen – sie hat etwas von einem Fohlen in ihrer grazilen Schlaksigkeit – zu mir. »So, Frau Doktor – was kann ich für Sie tun?« Sie streckt den Arm und streichelt Allegro, der ihr neugierig die Nase entgegenstreckt. »Wie geht’s ihm?«

»Nicht so sehr gut«, seufze ich. »Er ist beim Sturz offenkundig mit der Hufspitze von einem Hinterbein ins rechte Vorderbein getreten – und da war die Gamasche irgendwie verrutscht. Jedenfalls ist die Sehne angeschlagen.«

»Wie schlimm?«, fragt Paula.

Ich zucke mit den Schultern – besser gesagt: Mit der rechten Schulter. Die linke tut nämlich auch noch weh. »Kann man so nicht einschätzen. Dazu muss er in die Klinik – ich brauche eine Szintigrafie von seinem Bein. Aber ich fürchte, da ist einiges ab.«

»Aber er wird wieder?«

»Tja …« Ich lehne mich an die Boxenwand. »Ich wäre froh, wenn ich das schon sagen könnte. Aber das ist vom Zustand der Sehne abhängig. Wenn sie durch ist, dann war es das – dann wird er Beistellpferd und muss nie wieder was tun.«

»Oh je!« Paula schluckt. »Aber er rennt doch so gerne.«

Ich nicke. »Darum hoffen wir gemeinsam, dass die Sehne eben nicht ganz gerissen ist. Dann kann sie heilen – es wird allerdings einige Monate dauern.« Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Ich rufe nachher wegen eines Termins für die Szintigrafie in der Klinik an. Bis dahin kühlen wir sein Bein und füttern ihm Buta«.2

»… auf der Dopingliste«, vollende ich ihren Satz. »Macht aber nichts – selbst im besten Fall wird Allegro die nächsten 12 Monate keinen Turnierplatz sehen. Aber das Buta wird ihm helfen. Am besten ist es, wenn Sie ihm ein Süppchen3 kochen und dann bei mir ein paar Beutelchen Buta holen. Zweimal täglich ein Beutel in Mash – das müsste dafür sorgen, dass ihm das Bein nicht zu sehr wehtut.«

»Fein – koche ich gleich. Er mag ja zum Glück Mash sehr. Und soll ich ihm auch gleich die Kühlbandage aufs Bein machen?«

»Ich liebe Mitarbeiter, die mitdenken!«, grinse ich sie an – etwas mühsam, denn langsam schwirrt mir wirklich der Kopf und ich bin müde.

»Na, dann …«, Paula zupft an Allegros Ohr. »Kühles Bein, warmes Süppchen und Buta – Pferd, dir geht’s gut!« Sie hält mir die Boxentür auf, lässt sie hinter mir ordentlich einschnappen und flitzt in Richtung Futterküche.

Ich bin nicht ganz so schnell beim Verlassen des Stalls und bleibe draußen erst einmal stehen und schaue mich um. Der Hauptstall des Gestüts Waldeck liegt am Rand eines Anstiegs im Osten der Schwäbischen Alb – und ich bin davon überzeugt, dass es keinen Ort auf der Welt gibt, der so schön ist wie der Höhenzug, auf dem vorne die Burg Waldeck steht und der sich dann nach Westen über die Hochfläche des Rauen Feldes.4 zieht.

Ich kenne jeden Baum und Busch hier – und dennoch genieße ich den Ausblick immer wieder. Hinter dem Stall nach Westen ist nicht viel Platz. Da passt eine Reihe von kleinen Paddocks, dahinter noch ein Weg und dann kommt schon die Mauer aus alten, sorgfältig behauenen Buckelquadern, einstmals Teil des mittleren Befestigungsringes der Burganlage. Sie steht auf der Kante, danach geht es steil nach unten ins Tal.

Folgt man der Straße, die über das Gestüt führt, nach Norden, hat man rechts den Stall und links den großen Reitplatz mit der Halle dahinter. Hinter dem Reitplatz kommen der Laufstall der Stuten, das Wohngebäude, in dem die Bereiter und Lehrlinge untergebracht sind, und die kleinen Einzelkoppeln. Hinter ihnen dann die beiden Außenlager, in denen wir Stroh, Heu und Hafer aufbewahren. Über die weiten Wege zwischen Stall und Futterlager beschweren sich vor allem die Azubis, aber diese dienen dem Brandschutz. Und dahinter führt die Straße dann in Serpentinen abwärts, zwischen den großen Wiesen hindurch, auf denen die jungen Pferde des Gestüts heranwachsen.

Im Osten dann hinter der Reithalle beginnt ein kleiner Anstieg, der zur Hochfläche, dem Rauen Feld, hinaufführt. Er wird durch einen Wald begrenzt – die Bäume an seinem Rand geben unseren Stuten, die darunter ihre Koppel haben, im Sommer Schatten und im Winter, wenn kalte Winde über die Hochebene pfeifen, Schutz. Die Stuten sind der Schatz des Gestüts – 12 edle Trakehnerinnen und zwei Vollblüterinnen. Eine davon kommt tatsächlich von der Rennbahn und ist da recht erfolgreich gelaufen; die andere ist eine Original-Araber-Stute aus Marbach.5 Die beiden und außerdem drei Trakehner-Mädchen hat Titus zur Blutauffrischung eingekauft. Alle anderen Stuten wurden auf Waldeck geboren und stammen größtenteils von den beiden Stuten ab, mit denen Titus’ Großmutter dereinst aus Ostpreußen übers vereiste Haff nach Westen6 geflohen ist.

Im Wald hinter der Koppel ist unsere Trainingsstrecke mit einer ganzen Reihe von festen Hindernissen. An einem davon sind Allegro und ich gestern gestürzt.

Hinter dem Wald beginnt die Hochfläche, die sich ungefähr fünf Kilometer weit bis zum Ort Waldeckhausen zieht – und mittendrin, eine halbe Stunde Fußmarsch vom Ort und vom Gestüt entfernt, steht unsere »Möchtegern-Basilika« – die Pfarrkirche St. Georg auf dem Rauen Feld.

Ihren Spitznamen hat St. Georg ihrer edlen, weißen Renaissance-Kuppel zu verdanken, die tatsächlich an Bauten wie die Basilika in St. Blasien erinnert. Und dass sie so frei auf der Hochebene inmitten von Feldern steht, geht darauf zurück, dass Graf Georg von Waldeck, Herr über Burg, Güter und Dörfer im 17. Jahrhundert, ebenso stur wie eigenwillig und äußerst sparsam war.

Der Gute fand es auf seiner alten Burg – die wurde nämlich schon um 1130 herum...