Was du nicht weißt

Was du nicht weißt

von: Wendy Morgan

Aufbau Verlag, 2020

ISBN: 9783841219077 , 509 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Was du nicht weißt


 

PROLOG


Halloween, Abend des 31. Oktober vor fünfzehn Jahren

Lily Dale, US-Bundesstaat New York

 

Okay, ein Haus noch, und dann ist Feierabend!« Mit staksigen Schritten stöckelt Julia Garrity über den nassen Rasen des schmalen Vorgartens. Ihre Absätze sinken gefährlich tief in den feuchten Boden ein.

»Noch drei!«, korrigiert Kristin Shuttleworth, bereits einige Schritte voraus. »Bis jetzt hab ich nicht mal diese köstlichen Schokoriegel gekriegt. Dabei mag ich die am liebsten!«

»Eins!« Julia bleibt eisern. »Im Ernst, Kristin! Für mich ist Schluss! Du kannst ja weitermachen, wenn du willst!«

»Das sah doch bescheuert aus! Ohne dich macht mein Kostüm ja keinen Sinn! Ich brauch dich! Bitte!«

Betteln beherrscht Kristin aus dem Effeff. In der Regel kann sie ihre Freundin zu so ziemlich allem überreden, doch an diesem Abend wehrt Julia kopfschüttelnd ab. Ihr reicht das Spektakel.

Zum einen kommt sie sich mit vierzehn allmählich zu alt vor zum Sammeln von Süßigkeiten, auch wenn es sie umsonst gibt, zum anderen schmerzen ihre Füße wie verrückt in den von ihrer Mutter geborgten alten Samtpumps. Sie kann es kaum erwarten, die Verkleidung wieder gegen Turnschuhe und Jeans einzutauschen und sich diese eklige Schminke aus dem Gesicht zu waschen.

Mann, warum hab ich mich nur von Kristin bequatschen lassen, mich als weiblicher Teil von ’nem Hochzeitspaar zu kostümieren?, denkt sie genervt.

Kristin als Bräutigam darf den alten Frack von ihrem Vater und dazu ein Paar flache, bequeme schwarze Schuhe tragen. Auf dem langen, hochgesteckten blonden Haar sitzt ein Zylinder, und ihr hübsches Gesicht wird lediglich von einem angeklebten Schnauzbart verunziert.

Julia hingegen, als Braut herausgeputzt, trägt ein langes weißes Brautkleid, über dessen Schleppe sie ständig stolpert, die Sicht ohnehin eingeschränkt durch doppelte und dreifache Tüllschichten. Der Brautschleier steckt an einem Diadem, und das wiederum thront auf einer toupierten brünetten Perücke, unter der Julias jungenhafter brauner Schöpf gänzlich verschwindet. Haarteil sowie Kriegsbemalung beruhen auf Kristins Idee und sollen Julia femininer erscheinen lassen.

»Wenn ich so maskulin wirke, wieso darf ich dann nicht den Bräutigam spielen?«, hatte Julia beim Ankleiden genörgelt.

»Weil meine Mutter kein passendes Brautkleid für mich hat!«, war Kristins gereizte Antwort. »Die trug so ’n verrücktes Hippie-Minikleidchen, so ’nen psychedelischen Fummel, damals, als sie meinen Vater geheiratet hat. War auch so ’ne ausgeflippte Flower-Power-Zeremonie!«

Stimmt. Nicht etwa, dass Julias Mutter ein Brautkleid besäße! Wo sie doch Julias Vater, wer immer und wo immer der sein mochte, nie geheiratet hatte!

»Und deine Grandma«, fährt Kristin fort, »die macht ohnehin schon ’nen Heidenaufstand wegen ihres Brautkleids! Die hätte schwer was dagegen, wenn ich darin rumliefe!«

Wieder richtig. Julias Großmutter hat nicht gerade einen Narren an Kristin gefressen. Und Julias Mutter, die es mit der Erziehung sonst eher locker angehen lässt, kann Kristin nicht ausstehen und glaubt, die bringe ihre Tochter nur auf dumme Gedanken.

Julia kann es ihr nicht verdenken. Ein Mädchen wie die eigenwillige Kristin, die rauchte und fluchte und nie büffelte, war bei Eltern nicht gern gesehen. Aber eine zuverlässige Freundin war sie allemal, und man hatte jede Menge Spaß mit ihr.

Julia ist vorsichtig, Kristin hingegen draufgängerisch, im Gegensatz zur distanzierten Julia geht Kristin mehr aus sich heraus. Ein Lehrer hatte mal gesagt, der größte Unterschied zwischen beiden liege darin, dass Julia lieber die Wogen glätte, während für Kristin die Wellen gar nicht hoch genug schlagen können.

Mag sein, dass das der auffälligste Kontrast ist, doch es ist bei weitem nicht der einzige!

Oft viel jünger eingeschätzt als vierzehn, ist Julia ein zwar sportlicher, jedoch zierlicher, sommersprossiger Wildfang in Jeans – nicht unattraktiv, allerdings kein Kopfverdreher wie die schlanke, langbeinige Kristin.

Auch ohne Make-up ist Kristin ein Hingucker mit ihren weit auseinander stehenden Augen, den hohen Wangenknochen und den vollen Lippen, und schon seit sie zwölf ist, läuft sie ausschließlich aufgestylt in der Öffentlichkeit herum. Natürlich findet sie das echt spitze, wenn sie für einige Jahre älter gehalten wird. Seit kurzem verabredet sie sich gar mit College Studenten von der Uni in Fredonia, ein paar Kilometer entfernt. Die glauben alle, sie sei schon achtzehn oder neunzehn.

Die Eltern haben natürlich keine Ahnung von den Eskapaden ihrer Tochter. Julia wird das Gefühl nicht los, dass ihre selbstbewusste Freundin sich eines schönen Tages dabei in die Nesseln setzt, aber offenbar macht sie sich nicht die geringsten Gedanken und marschiert unbekümmert und leichtsinnig durchs Leben.

Kristin ist eben in punkto Temperament und Auftreten das genaue Gegenteil von Julia, und sogar Julia selbst kann es zuweilen kaum fassen, dass sie immer noch dermaßen eng befreundet sind. Allerdings gibt es in einer kleinen Ortschaft wie Lily Dale, in der nur eine Hand voll Familien das ganze Jahr über wohnt, nur wenige gleichaltrige Mädchen. Im Grunde hocken sie schon seit Kleinkindertagen zusammen, und ungeachtet aller Macken, die Kristin aufweist, liebt Julia ihre Freundin wie die kleine Schwester, die sie nie hatte und wohl auch nie bekommen wird, jedenfalls nicht bei dem Männerverschleiß ihrer Mutter. Es sieht nicht danach aus, als würde die mal zur Ruhe kommen und einen finden, der ihr auf längere Sicht gefiel.

»Los, Jul, auf geht’s!« Ihren orangefarbenen Plastikkürbis schwingend, stolziert Kristin die schmale Summer Street hinauf. »Sieht aus, als wären die Biddles daheim!«

Zögernd wirft Julia einen Blick auf das vor ihnen liegende zweigeschossige Cottage im viktorianischen Stil. »Zu denen gehen wir besser nicht hin.«

»Wieso nicht?« Kristin lässt sich nicht einmal aus dem Rhythmus bringen. »So ’ne große Auswahl bleibt uns doch gar nicht!«

Da ist etwas dran. Um diese Zeit sind die meisten Häuser in Lily Dale verwaist, die Fenster mit Sperrholzplatten gesichert, die Eigentümer weit weg von den rauen Winden und Schneefällen, die den Westen des Bundesstaates von Oktober bis April heimsuchen.

Wie die Familien von Julia und Kristin auch, sind Rupert und Nanette Biddle allerdings immer in Lily Dale geblieben. Obwohl eher zurückhaltend, wirken sie doch, trifft Julia mal bei Versammlungen oder Veranstaltungen der »Lily Dale Assembly« auf sie, recht umgänglich, wenn auch auf etwas reservierte Art.

»Die Außenleuchte brennt nicht«, stellt Julia fest. »Und hier waren wir sowieso noch nie zum Sammeln.«

»Für alles gibt’s ein erstes Mal!«, kontert Kristin schlagfertig, schon auf halber Höhe der Treppe.

Seufzend folgt Julia ihrer Freundin, während der Wind vom nahe gelegenen Cassadaga-See her auffrischt. Welke Blätter wirbeln über den Kiesweg, und in der Brise bimmelt ein Windspiel seinen melancholischen, vielstimmigen Singsang. Die eine Hand an der gerafften Schleppe, die andere fest am Handlauf des Holzgeländers, stakst Julia unsicher in ihren Stöckelschuhen die Stufen hinauf, wobei ihr das Brautkleid beängstigend um die Knöchel flattert. Über ihrem Kopf schaukelt im Wind ein hölzernes Schild, angebracht an einem kunstvoll gedrechselten Haken, ganz im Stil des verschnörkelten Schnitzwerks an der Vordachtraufe.

RUPERT BIDDLE, EXAMINIERTES MEDIUM.

Eine Holzdiele knarrt unter ihrem Gewicht, als Julia über die Veranda auf Kristin zugeht, deren Hand sich bereits nach der antiquierten Türglocke streckt.

Wie die Mehrzahl der Häuser in Lily Dale, so ist auch dieses Cottage vermutlich schon über einhundert Jahre alt. Rupert Biddle allerdings zählt zu den erfolgreicheren Medien in der Spiritistischen Vereinigung, und sein Heim gehört zu den wenigen, die rundum renoviert wieder im ursprünglichen Glanz erstrahlen. Kein abblätternder Anstrich, keine fehlenden Dachschindeln, keine schief hängenden Fensterläden.

Beim Domizil der Familie Shuttleworth, ein paar Häuserzeilen weiter, gibt es so etwas allerdings ebenfalls nicht. Anson Shuttleworth, Kristins Vater, ist ein prominenter Spiritist, dessen Bekanntheitsgrad beträchtlich gestiegen war, als er der Polizei in Buffalo dazu verholfen hatte, die Leichen mehrerer, vor etwa einem Jahr von einem Serienmörder umgebrachter Kinder aufzufinden. Er hatte gerade ein Buch über diese Begebenheit publiziert.

Kristin redet jedoch nicht gern darüber – sowohl über das Buch als auch über ihren Vater im Allgemeinen.

Sie äußert sich zudem nur selten und ungern über ihren älteren Halbbruder Edward, der bei seiner Mutter, Ansons erster Frau, unten in Jamestown wohnt. Julia weiß noch, wie der früher, als sie kleiner waren, öfter zu Besuch auftauchte, doch damit ist nun Schluss. Kristin hat mal ganz nebenbei erwähnt, er habe sich böse mit...