Kogi - Wie ein Naturvolk unsere moderne Welt inspiriert

von: Lucas Buchholz

Neue Erde, 2020

ISBN: 9783890603407 , 272 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 17,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Kogi - Wie ein Naturvolk unsere moderne Welt inspiriert


 

Kapitel 1


Die Erstgeborenen


Tradition ist die Bewahrung des Feuers,
nicht die Anbetung der Asche
.

Gustav Mahler

Die Kogi sind wertvoll


Beginnen wir am Anfang. Die Gespräche im Saal verstummten. Der Mamo fing an zu sprechen:

Ich heiße Mama José Gabriel Alimaco, und ich komme aus der Sierra Nevada de Santa Marta. Die Sierra Nevada ist das Herz der Welt. Dort leben wir vier Stämme gemeinsam: wir Kogi, die Arhuaco, die Wiwa und die Kankuamo. Wir sind die Hüter der Sierra Nevada, des Herzens der Welt.

Am Anfang war alles dunkel, und es gab nur Gedanken. Es gab keine Erde, keine Bäume, keine Tiere und keine Steine. Alles war dunkel, und es gab nur Gedanken, nichts weiter. Dann hat Jaba Sé7 in Aluna, der Welt der Gedanken, Sezhankua8 geschaffen. Sie selbst konnte sich nicht bewegen. Sezhankua erschuf dann die Erde als kleinen schwarzen Stein. Am Anfang war die Erde sehr, sehr klein und bestand nur aus Stein, aus nichts weiter. Dann hat er das Wasser geschaffen und dann irgendwann die Sierra Nevada mit ihren Tieren, Bäumen, Bergen, Flüssen, Wäldern und ihren Menschen, zuerst die Kogi, dann die Arhuaco, dann die Wiwa und zuletzt die Kankuamo. Die vier Stämme der Sierra Nevada sind die Älteren Brüder, sie wurden zuerst geschaffen. Und Sezhankua hat ihnen die Sierra Nevada gegeben, damit sie sie hüten. Dann wurde die Erde immer größer, sie wuchs immer weiter und wurde irgendwann sehr groß. Sezhankua hat den Kogi ein kleines Territorium gegeben, damit wir auf es aufpassen. Er hat auch den Jüngeren Brüdern9 ein Territorium gegeben, damit sie dort leben können und es bewahren.

Als Sezhankua jedoch die Aufgaben an alle Völker verteilt hatte, was sie tun sollten, wofür sie zuständig sind und wie sie sich um die Erde kümmern sollten, sind die Jüngeren Brüder irgendwann nachts um drei oder vier eingeschlafen. Die Jüngeren Brüder können bis heute nicht sehr lange reden. Nach spätestens acht Stunden sind sie müde. Bei den Kogi sprechen wir manchmal neun Tage und neun Nächte ohne Pause.

Sezhankua hatte den Jüngeren Brüdern ihr Territorium zum Leben gegeben mit heiligen Orten, auf die es aufzupassen gilt. Uns hat er die Sierra Nevada gegeben, ein sehr kleines Territorium, damit wir das Herz der Erde hüten. Aber der Jüngere Bruder hat vergessen, was Sezhankua ihm aufgetragen hat. Christoph Kolumbus ist nach Kolumbien gekommen. Die Jüngeren Brüder hatten ihre Erde zum Leben, doch sie sind zu uns gekommen. Viele von uns wurden getötet. Sie haben viele Krankheiten mitgebracht und viele von uns sind gestorben. Sie wollten unser Gold und haben es sich genommen. Wir hatten kein Geld und keine Autos, aber wir hatten Gold in jedem Haus. In jedem Haus gab es Gold und es hing an den Bäumen. Es war lebendig, es war ein pagamiento10 an die Erde. Die Jüngeren Brüder haben es weggenommen, weil sie nicht verstanden haben. Nun ist das Gold tot und liegt nutzlos in euren Museen. Es hat keine Aufgabe mehr. Wir Älteren Brüder haben dennoch gesagt: »Gut, wir werden mit den Jüngeren Brüdern zusammenleben, denn es sind unsere Brüder, und sie sind zu uns gekommen.«

Dann haben die Jüngeren Brüder angefangen immer mehr Land zu nehmen. Wir sind also hoch in die Berge aufgestiegen und haben uns dort in Höhlen zurückgezogen. Die Jüngeren Brüder haben begonnen, auf dem Land am Fuß der Sierra zu leben, aber sie haben die Dinge nicht geachtet. Sie haben die Tiere nicht geachtet, sie haben die Bäume nicht geachtet, sie haben die Steine nicht geachtet, sie haben die Flüsse und die Quellen nicht geachtet und sie haben die heiligen Orte nicht geachtet und sich nicht um sie gekümmert und sie nicht genährt. Das hat sich in den letzten 500 Jahren nicht geändert.

Wir haben gewartet. Vor einiger Zeit haben wir Mamos11 jedoch gesehen, dass es so nicht weitergehen kann. Sezhankua hat uns das Herz der Welt gegeben, damit wir uns darum kümmern. Aber wir haben uns gefragt, wie können wir uns darum kümmern, wenn wir zu vielen heiligen Orten gar keinen Zugang mehr haben? Wie können wir uns darum kümmern, wenn die Jüngeren Brüder unsere heiligen Orte missachten und wir hoch oben in den Bergen wohnen und gar nicht mehr an diese Orte gelangen?

Wenn wir uns nicht um die Sierra, das Herz der Welt kümmern, dann wird es sterben. Es wird sterben, und da es das Herz ist, wird die ganze Welt sterben. Vom Herz nach unten ist die Welt bereits tot, vom Herz nach oben ist die Welt noch lebendig. Die Sierra kann nur leben, wenn wir wieder an unsere heiligen Stätten gelangen und wenn wir uns durch sie mit dem Leben verbinden. Wenn wir an den heiligen Orten pagamiento machen, achten wir so die Erde. Wir geben etwas von uns für das, was wir erhalten, damit die Erde im Gleichgewicht bleibt. Wenn ihr im Laden etwas kauft, bezahlt ihr auch viel Geld, aber was die Erde euch gibt, dafür bezahlt ihr nichts. Wenn wir uns jedoch nicht um die Erde kümmern und sie nähren, kommt alles noch mehr aus dem Gleichgewicht, und sie wird sterben und wir dann auch…

Mama José Gabriel sprach immer weiter und nach etwa zwanzig Minuten wurde mir klar, dass ich mitschreiben musste, um nur ansatzweise in der Lage zu sein, das Gesagte zu behalten und es dann dem Publikum zu übersetzen. Ich hatte erwartet, dass er irgendwann einmal einen Punkt macht, aber so war es nicht. Ich begann fieberhaft, alles zu notieren. Der Veranstaltungssaal in Frankfurt war so voll, dass hinter den letzten Reihen noch manche standen, und alle warteten mit gespanntem Schweigen auf meine Übersetzung aus dem Spanischen.

Der Mamo sprach etwa 45 Minuten ununterbrochen. Ich hatte versucht, alles mitzuschreiben, und hatte auch das meiste erfasst. Viele Begriffe und Konzepte, die Mama José Gabriel erwähnte, nannte er auf kággaba, der Sprache der Kogi, und nicht auf Spanisch, und so hatte ich keine Vorstellung, was sie bedeuten könnten, da ich damals noch kein einziges Wort dieser Sprache verstand. Ich fragte des öfteren den Begleiter von Mama José: »Wer ist Sezhankua? Wer ist Jaba Sé? Was bedeutet pagamiento?« Ich bekam einige Antworten, notierte sie schnell und versuchte, meine Notizen im Kopf so zu ordnen, dass ich eine halbwegs zusammenhängende und strukturierte Übersetzung der langen Rede wiedergeben konnte. Sein Begleiter half mir über die ersten Verständnishürden hinweg. Nachdem ich dann gesprochen hatte, setzte der Mamo seine Rede fort. So ging es den ganzen Abend. In den nächsten zwei Wochen sollte ich diese oder ähnliche Worte noch sehr oft zu hören bekommen.

Mama José Gabriel war nach Deutschland gereist, um die Botschaft der Kogi an uns, die Jüngeren Brüder, zu übermitteln. Vor Wochen hatte ich irgendwo gelesen, dass ein Ältester der Kogi nach Frankfurt kommen würde, und sofort war mein Interesse geweckt. Ich konnte gar nicht genau sagen, warum, doch ich hatte dieses eigentümliche Gefühl, das mich nicht mehr losließ. Kurzerhand schrieb ich eine Email und bot an, die Vorträge und Seminare aus dem Spanischen zu übersetzen. Und falls die Kogi noch einen Schlafplatz in Frankfurt bräuchten, könnten sie gerne bei meiner Familie übernachten. Beides wurde dankend angenommen. Damit war der Grundstein für meinen Aufenthalt anderthalb Jahre später in der Sierra Nevada de Santa Marta gelegt.

Der alte Mamo und sein Begleiter fuhren durch Deutschland und sprachen in vielen großen Städten: München, Berlin, Frankfurt, Hamburg, Köln. Manchmal waren es Vorträge, manchmal ganze Seminartage. Jedes Mal begann der Mamo mit einer kleinen Vorstellung und erzählte, woher er kommt, zu welchem Volk er gehört und was die Aufgabe des Volkes der Kogi ist: die Erde zu hüten und die Welt in den Fugen zu halten. Dann folgte immer eine Kurzversion der Schöpfungsgeschichte. Er erzählte vom Anfang der Welt und vom Ursprung der Dinge. Er sprach darüber, was zuerst war und was dann folgte. Er erklärte, dass es unerlässlich sei, zum Ursprung zurückzukehren, wenn wir verstehen wollten, wer wir sind, was in der heutigen Zeit geschieht, wovon wir fort-schreiten und warum wir die Dinge so tun, wie wir sie tun. Auch sprach er immer darüber, wie die Geschichte des Jüngeren Bruders mit dem Älteren Bruder bis dato verlaufen war und dass nun der Zeitpunkt gekommen sei, zusammenzuarbeiten und voneinander zu lernen. Seine aufrüttelnden, weisen, erkenntnisreichen und manchmal auch bedrückenden Worte sollte ich erst in Kolumbien und dann noch viel später beim Schreiben dieses Buches wirklich begreifen.

Mama José Gabriel war nach Deutschland gekommen, um uns zu einem Dialog einzuladen. Er kam als Vertreter seines Volkes, und für diese Aufgabe ist er von Kindesbeinen an ausgebildet worden. Die Kogi knüpfen mit ihrem Besuch an eine Tradition von Dialogangeboten an, die die Indianer des amerikanischen Doppelkontinents auf den Stränden der Insel...