Burg Tollkühn - Band 1

Burg Tollkühn - Band 1

von: Andreas Völlinger

Baumhaus, 2020

ISBN: 9783751701327 , 192 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Burg Tollkühn - Band 1


 

2. Willkommen auf Burg Tollkühn


Im Hof von Burg Tollkühn herrschte geschäftiges Treiben. Dutzende Menschen und auch ein paar Elfen und Zwerge standen in der Gegend herum, neben ihnen Berge von Gepäck. Kutschen fuhren ein und aus, Reiter lenkten ihre Pferde durch das Gewusel. Eine Familie war sogar auf Reitechsen gekommen.

Kurz nachdem Siggi und seine Eltern aus der Kutsche gestiegen waren, passierte genau das, was fast immer geschah, wenn sie irgendwo aufkreuzten. Jemand kreischte: „Das sind Kriemhild und Siegfried!!!“ Und in null Komma nix waren seine Eltern von einer begeisterten Meute umringt. Andere zukünftige Heldenschüler und sogar einige der Heldeneltern wollten ihnen die Hände schütteln, sagen, was für Vorbilder sie seien, oder sie einfach nur ehrfürchtig angaffen. Jemand trieb eine Schreibfeder und ein Tintenfass auf, damit die beiden Über-Helden Autogramme geben konnten. Sie kritzelten ihre Namen auf Mäntel, Schilde, Helme, Gesichter und nackte Bäuche, die ihnen entgegengestreckt wurden. Mit einem Dolch ritzte Kriemhild ihre Signatur sogar in den Stiel einer Axt.

Siggi stand etwas abseits alleine da und sah sich unsicher im Burghof um. Im nördlichen Teil stand die noch recht neu wirkende Statue eines hünenhaften Kriegers. In der einen Hand hielt er einen abgeschlagenen Ogerkopf, in der anderen ein gezacktes Riesenschwert.

Siggi wurde von der Statue abgelenkt, als eine Gruppe Elfen auf Tolkanen – das waren große blau-grün gefiederte Laufvögel – in den Burghof ritt. Fasziniert beobachtete er, wie sie ihre prächtigen Reittiere stoppten und elegant hinunterglitten.

Elf müsste man sein, dachte Siggi. Die Angehörigen dieses uralten Volkes waren von Natur aus unheimlich geschickt und anmutig.

Aber das galt offenbar nicht für alle Elfen: Ein Tolkan rannte einfach weiter und quer über den Burghof. Der junge Elf auf dem Rücken des großen Laufvogels bekam ihn erst zum Stehen, als er schon fast in eine Zwergenfamilie gerannt war.

Unter wüsten Beschimpfungen der Zwerge und mit hochrotem Kopf lenkte der Junge sein widerspenstig krähendes Reittier zu den anderen zurück. Und mit dem eleganten Heruntergleiten hatte es der Elf auch nicht so. Beim Versuch, sein linkes Bein auf die rechte Seite zu schwingen, kippte er mit einem überraschten Schrei seitlich vom Laufvogelrücken – und landete neben Siggi auf dem Boden.

Die vier älteren Elfen, die mit dem Jungen gekommen waren, machten keine Anstalten, ihm zu helfen. Sie schienen sich zu schämen und schauten angestrengt in alle möglichen anderen Richtungen.

Siggi nahm sich ein Herz und hielt dem gestürzten Elfenjungen die Hand hin. Der ergriff sie und kam mit Siggis Hilfe wieder auf die Beine. Er war größer als Siggi (was nicht so schwer war) und hatte braunes Haar, das er elfentypisch lang trug. Seine Ohren waren natürlich lang und spitz. Siggi hatte sogar das Gefühl, dass sie noch etwas länger waren als bei anderen Elfen. Oder es wirkte einfach so, weil der Elfenjunge so dünn war.

„Danke dir“, sagte der Elf und schüttelte Siggis Hand. Er hatte ein ansteckendes Lächeln. „Ich bin Filas.“

„Und ich Siggi. Gern geschehen“, antwortete Siggi und lächelte ebenfalls.

„Ich glaube, mein Tolkan ist verflucht. Er macht wirklich nie, was ich will“, erklärte Filas und fuchtelte mit seinen dünnen Armen herum. „Und ich reite eh nicht gerne. Davon tut mir nur der Hintern weh. Aber meine Eltern wollten unbedingt mit den neuen Tolkanen angeben.“

„Äh, wo ist deiner eigentlich hin?“, fragte Siggi.

Filas’ eigensinniges Reittier war inzwischen einfach davonstolziert und hatte einem Edelmann die Seidenmütze vom Kopf gefressen.

„Och nee“, ächzte Filas und rannte los, um Schlimmeres zu verhindern. „Bis später!“

Siggi sah dem seltsamen Elfenjungen grinsend hinterher.

Da tippte ihm jemand auf die Schulter.

„Entschuldige, stehst du auch für ein Autogramm an?“ Hinter Siggi war ein rothaariges Mädchen aufgetaucht.

Siggi schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Ich warte nur auf meine Eltern.“

„Ah, das ist nett, dass sie für dich anstehen“, sagte das Mädchen.

Siggi seufzte. „Nein, ich warte darauf, dass meine Eltern endlich mit dem Autogrammegeben fertig sind.“

Der Rothaarigen fielen fast die Augen aus dem Kopf.

„Du bist der Sohn von Siegfried und Kriemhild?! Aber-aber …“

„Ja, ich weiß“, murmelte Siegfried. „Ich sehe nicht so aus. Und nein, ich bin nicht adoptiert.“

Ihre Wangen röteten sich. „Äh, nein, so war das nicht gemeint …“

„Schon gut, ich bin’s gewohnt. Ich heiße Siggi.“

„Ich bin Brünhild“, sagte das Mädchen.

„Und sie will die beste Heldin aller Zeiten werden“, plärrte ein ebenfalls rothaariger Dreikäsehoch dazwischen.

„Verschwinde, Gernot!“, zischte Brünhild genervt.

„Aber es stimmt doch!“, rief Gernot. „Du hast gesagt, du wirst in die Geschichte eingehen …“

„Halt die Klappe, du Gnom!“, rief Brünhild. Sie schob den kleinen Jungen, offensichtlich ihr Bruder, in Richtung einer rothaarigen Frau und eines glatzköpfigen Mannes. Beide waren in lange Gewänder gekleidet, wie sie Gelehrte trugen. Das fiel ziemlich auf, denn die meisten Eltern im Burghof waren eindeutig kampferfahrene Helden.

„Mein Bruder redet mal wieder Blödsinn“, versicherte Brünhild eilig. „So habe ich das bestimmt nicht gesagt.“

„Sind das deine Eltern?“, fragte Siggi überrascht.

Brünhild sah etwas peinlich berührt aus. „Man sieht ihnen an, dass sie keine Helden sind, was? Mein Vater ist Geschichtsschreiber und meine Mutter Runengelehrte. Sie hätten gern gehabt, dass ich auch Gelehrte werde. Dabei will ich eine Heldin werden, seit ich denken kann! Ich musste ewig diskutieren, bis sie mir erlaubt haben, auf die Heldenschule zu gehen. Nicht jeder hat mit seinen Eltern so ein Glück wie du.“

Siggi verzog das Gesicht. „Na ja, das kann man auch anders sehen …“

Doch Brünhild beschäftigte bereits etwas anderes. Mit offenem Mund starrte sie nach oben in die Luft.

Siggi folgte ihrem Blick und sah ein weißes geflügeltes Pferd am Himmel. Majestätisch kreiste es über der Burg und kam dem Hof dabei immer näher. Auf seinem Rücken saß eine breitschultrige Gestalt in einer glänzenden Rüstung und mit einem gehörnten Helm auf dem Kopf.

Das Stimmengewirr im Burghof wurde leiser und verstummte schließlich ganz, als alle das Flugpferd entdeckt hatten.

„Das ist sie …“, sagte Brünhild begeistert.

„Hä? Wer denn?“, wunderte sich Siggi.

„Na, Gudrun. Die legendäre Walküre. Die Gründerin dieser Schule!“

Walküren wurden die sagenhaften Kriegerinnen aus dem Norden genannt, die sich auf ihren geflügelten Pferden selbst ins größte Schlachtgetümmel trauten. Manche glaubten, dass die Walküren keine normalen Frauen seien, sondern Halbgöttinnen. Was aber wohl etwas übertrieben war.

Jetzt konnte Siggi dicke graue Zöpfe erkennen, die unter dem Helm hervorschauten und im Wind flatterten. Doch mit einem Mal sackte das fliegende Pferd ein ganzes Stück in der Luft ab – und auf die Menge zu! Angstschreie erklangen.

Das Pferd begann hektisch mit den Flügeln zu schlagen. Für einen Moment schien es, als ob es mitten in den Burghof stürzen würde. Doch dann fing sich das Tier wieder. In einer schrägen Spirale flog es auf die breite Treppe zu, die zu einem großen Portal hochführte. Kurz vor der Treppe landete das Flügelpferd, wobei es fast in die Knie ging.

Das Tier zitterte vor Anstrengung. Es war offenbar nicht mehr das jüngste Pferd, sondern schon etwas klapprig. Und seine Reiterin, die gerade ächzend vom Sattel kletterte, war nicht nur groß und kräftig, sie hatte auch mehr als nur ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen. Kein Wunder, dass das Pferd Probleme hatte, sich in der Luft zu halten.

„Auf dem Gemälde, das ich von ihr gesehen habe, war sie aber besser in Form“, kommentierte Brünhild enttäuscht.

Während ein Knecht das ausgelaugte Flugpferd wegschleifte, erklomm Gudrun die Stufen vor dem Hauptgebäude der Burg. Oben angekommen, holte sie ein paarmal tief Luft.

„Willkommen“, hallte ihre tiefe Stimme durch den Burghof. Das aufgeregte Gemurmel, das eingesetzt hatte, verstummte augenblicklich. „Willkommen, ihr Heldinnen und Helden von morgen! Es herrschen dunkle Zeiten, und das Land braucht dringend neues Heldenblut! Daher freue ich mich, die ersten Schüler auf Burg Tollkühn begrüßen zu dürfen. Hier wird der Grundstein für eure großen Taten gelegt. Wir werden euch stark machen! Wir werden euch beibringen, wie ihr in der tödlichsten Gefahr überlebt! Wie ihr die furchtbarsten Gegner bezwingt. Und wie ihr zu Legenden werdet!“

Die Menge im Burghof applaudierte begeistert, besonders Brünhild. Siggi klatschte etwas weniger eifrig.

Als Nächstes versammelte Gudrun die anderen Lehrerinnen und Lehrer der Heldenschule um sich. Es waren fünf ziemlich unterschiedliche Gestalten.

„Die Halbelfe mit der Augenklappe ist Kendra, eine legendäre Waldläuferin“, erklärte Brünhild aufgeregt. „Und der Herr mit dem weißen Bart ist Jaromir von Donnerhall, der den Häuptling der Reif-Riesen erschlagen und damit die dritten Riesenkriege beendet hat! Und der Zwerg mit der Narbe im Gesicht, das...