Waldo Wunders fantastischer Spielzeugladen - Band 1

Waldo Wunders fantastischer Spielzeugladen - Band 1

von: Anne Scheller

Baumhaus, 2020

ISBN: 9783751701334 , 192 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Waldo Wunders fantastischer Spielzeugladen - Band 1


 


KAPITEL 1


»Ihr Paket ist angekommen!«

Die gelbe Karte leuchtete Lennart Lindenbaum von der Fußmatte entgegen. Er hob sie auf und klemmte sie in den Mund. Seine Hände brauchte er, um die Wohnungstur aufzuschließen, die immer ein wenig hakte. Mit einem gezielten Tritt schoss Lenni seinen Schulranzen vom Treppenabsatz in den Wohnungsflur. Den Fahrradhelm hängte er dagegen sorgsam auf. Ohne Helm ließ ihn seine Mutter nicht Fahrrad fahren. Er hatte ja auch kein gewohnliches Rad, sondern ein megacooles neongrunes Bike, mit dem er im Skatepark Wheelies und andere Tricks ubte.

Staubige Stille umfing Lenni, nur die Fußbodendielen knarzten etwas. Die Wände waren uneben und krumm. Man sah und spurte uberall, dass das Wohnhaus in der Pulvergasse 9 uber 300 Jahre alt war. Lenni hatte die Wohnung fur sich. Seine Mutter wurde erst gegen zehn von der Spätschicht aus dem Krankenhaus kommen.

In der Kuche legte Lenni die gelbe Karte auf den Esstisch. Er stutzte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sein Name auf der Karte stand. Wer konnte ihm denn ein Paket schicken? Onkel Franko? Der meldete sich eigentlich nur zum Geburtstag. Oder hatte Lenni letztes Wochenende etwas bei seinem Vater vergessen? Das kam manchmal vor, aber Papa hatte ihm noch nie etwas nachgeschickt. Oder konnte es sein, dass Mama ihm etwas bestellt hatte? Das machte sie manchmal, um ihm etwas Gutes zu tun.

Lola Lindenbaum war Krankenschwester und oft abends oder nachts bei der Arbeit. Dennoch fuhlte Lenni sich nie alleingelassen – wahrscheinlich, weil sie trotzdem jederzeit fur ihn da war. Nur eins war nicht ihre Stärke: Geschenke aussuchen. Neue Biker-Handschuhe oder ein Handy? Fehlanzeige. Lennis Mutter kaufte immer enorm nutzliche, aber vollig ode Dinge wie lange Unterhosen oder Kleiderhaken.

»Ihr Paket ist angekommen! Hinterlegt bei: W. Wunder«.

Nun wurde Lenni aber doch neugierig. Er verließ die Wohnung und lief die steilen Treppen zuruck ins Erdgeschoss. Unten im Haus befand sich Waldo Wunders fantastischer Spielzeugladen. Fruher war Lenni oft bei Herrn Wunder im Laden gewesen, zum Beispiel wenn seine Mutter Besorgungen machen oder Freundinnen treffen wollte. Inzwischen fand Lenni aber, dass er fur einen Spielzeugladen viel zu alt war. Was sollten Max und die anderen Jungs aus dem Skatepark denken, wenn sie erfuhren, dass Lenni nachmittags zwischen Robotern und Puppen abhing?

Durch die Verbindungstur vom Hausflur gelangte Lenni in den hinteren Teil des Ladens. Der Ladenraum lag wie immer im Dämmerlicht. Die Schaufenster waren bis obenhin mit Spielzeugen zugestellt, und das matte Licht einer Lampe in Fliegenpilzform half auch nicht viel weiter. Lenni wusste aber auch so, was es zu kaufen gab. In Einbauregalen aus dunklem Holz, die bis unter die Decke reichten, in unzähligen Fächern, Schubladen und Kisten stapelten sich alle nur erdenklichen Arten von Spielzeugen: Spieltiere und ferngesteuerte Roboter, Fahr- und Flugzeuge, Flitzebogen und Gummipfeile, Kuscheltiere, Puppen und Sorgenfresser, Puzzle und Bastelsets, Bucher, Rätsel, Gedulds- und Geschicklichkeitsspiele, Lupen und Ferngläser, Glucksbringer, Handschmeichler, Flummis, Glibberknete, nachleuchtende Sterne, Schatzkisten, Nachtlampen und sogar ein paar uralte Blechfiguren, die ratternd herumfuhren, wenn man sie aufzog. Damit man in all dem Durcheinander auch den Überblick behielt, wiesen verschnorkelte goldene Schilder zum Mars (ein Tisch mit Robotern und Raumschiffen), in den Elfenwald (ein Regal voller Spielfiguren von Elfen, Feen und Einhornern), in die Werkstatt (ein Regal mit Schnitzholz und Werkzeugen direkt neben Herrn Wunders eigener Werkstatt) oder zum Indianercamp (wo es alles vom Tipi bis zum Tomahawk gab).

Waldo Wunder stand hinter dem Ladentisch und schloss ruckartig eine Schublade, als Lenni hereinkam. Lenni vermutete insgeheim, dass der Spielzeughändler etwa so alt war wie das Haus in der Pulvergasse. Er war klein und drahtig, hatte schneeweißes Haar und eine so dicke Brille auf der Nase, dass seine vergroßerten Augen immer etwas erstaunt wirkten. Er trug jeden Tag die gleiche dunkelblaue Weste und ein gebugeltes Hemd mit steifem Kragen. Nur wenn er hinten in der Werkstatt arbeitete, zog er einen Arbeitskittel uber.

»Ah, Lennart, ich hatte dich bereits erwartet.« Herr Wunder spähte hinter seinen dicken Brillengläsern zur Tur. »Du hast Post, dort druben. Ich hatte dagegen nicht so viel Gluck.« Er nickte zu einem kleinen Päckchen hinuber, das auf einem turmhohen Kartonstapel thronte wie die Prinzessin auf der Erbse.

»Nicht so viel Gluck?«, fragte Lenni ungläubig. »Aber Sie haben doch haufenweise Pakete bekommen!«

»Ah, das«, sagte Herr Wunder und nickte bedächtig. »Naturlich, die Lieferung aus der Spielzeugfabrik. Aber eigentlich habe ich etwas anderes erwartet. Sehnsuchtig erwartet …« Er schwieg einen Moment, dann holte er Luft und lächelte Lenni an. »Geh schon, offne dein Paket! Was ist denn drin? Ich habe doch nicht etwa deinen Geburtstag vergessen? Wie alt wirst du?«

»Ich werde elf, aber erst im September«, sagte Lenni abwesend. Er bahnte sich einen Weg zwischen den Schienen einer Modelleisenbahn hindurch, nahm das oberste Päckchen vom Stapel und riss das Klebeband ab. Ein großes Blechmännchen kam hervor. Es trug eine schwarz-blaue Uniform und ein gebogenes Schwert in der Hand. Eine Schraube auf der Ruckseite diente dazu, die Figur aufzuziehen.

Lenni grinste. Ein witziges Teil, aber wer sollte ihm so was schicken? Ein Blick auf den Karton verriet ihm, was los war. »Herr Wunder, das ist fur Sie«, sagte er.

Die Augen des Spielzeughändlers wurden noch großer. »Ein schones Stuck!«, rief er aus, nahm das Blechmännchen und drehte es anerkennend in den Händen. »Reines Silberblech. Handbemalt. Flugelschraube mit Stahlgewinde. Na, da hat mir die Fabrik aber etwas Feines eingepackt! Warum aber nur ein einziges?« Er durchwuhlte noch einmal den Karton, den Lenni geoffnet hatte – vergebens.

Während Herr Wunder das Blechmännchen zuruck in den Karton legte, arbeitete Lenni sich durch den Rest des Stapels. Erst das vorletzte Paket gehorte nicht zu Waldo Wunders Lieferung und war an Lenni adressiert. Es hatte etwa die Große eines kleineren Mountainbikes, aber das war eindeutig nicht Mamas Preisklasse. Viel wahrscheinlicher waren ein paar dicke Bucher oder ein Regal fur seine Schulsachen. Er riss am Klebeband, da bimmelte die Ladenglocke.

Lenni blickte auf. Ein etwa achtjähriges Mädchen mit langen welligen Haaren und einem spitzen Gesicht betrat den Laden, gefolgt von seinem Vater. Während der Mann Herrn Wunder begrußte, trat das Mädchen zielstrebig zum Elfenwald und nahm eine Elfe, zwei Feenkinder, einen Drachen, ein geflugeltes Pferd und eine passende Spiellandschaft aus dem Regal. Als es dann auch noch nach einem Päckchen Zauberstäbe und Feenstaub griff, geriet der Spielzeugturm auf ihren Armen ins Wanken, und die Figuren sturzten zu Boden.

»Aber, meine Liebe!« Herr Wunder sturzte hinter dem Ladentisch hervor, hob den Drachen auf, stellte die kleinen Feenkinder ins Regal zuruck und nahm dem Mädchen die Spiellandschaft ab, bevor es diese komplett zerdruckte. »Mit meinen Spielsachen solltest du besonders sanft umgehen«, sagte er. »Nachher geht noch eines kaputt … Hast du uberhaupt so viel Geld dabei?«

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Mein Vater hat versprochen, mir heute etwas zu kaufen. Papaaaa!«, rief es Richtung Ladentisch. »Kriege ich das hier? Alles?« Es deutete auf das Regal im Elfenwald.

Der Mann am Ladentisch offnete den Mund und schloss ihn wieder. »Also, Felina …«, meinte er zogernd. »Ich weiß ja nicht … Ist das nicht etwas viel?«

»Nein!«, sagte Felina.

Lenni blieb der Mund offen stehen. So etwas hätte er sich nicht getraut! Waldo Wunder aber warf ihm einen vergnugten Blick zu, die Riesenaugen hinter den Brillengläsern blitzten, und sein Mund formte das Wort verwohnt. Lenni musste grinsen. Verwohnt schien ihm noch etwas zu schwach. Dickkopfig fand er passender! Herr Wunder jedoch lächelte die Kunden nun wieder zuvorkommend an und sagte mit einer kleinen Verbeugung: »Die junge Dame darf sich ruhig weiter umschauen. Vielleicht hilft mein Freund Lennart ihr ja bei der Entscheidung! Was sagten Sie eben uber ihre Sammlung historischer Puppenkopfe?«

Die Erwachsenen vertieften sich wieder in ihr Gespräch. Lenni brummte in sich hinein. Warum sollte er Felina bitteschon helfen, sich fur ein Spielzeug zu entscheiden? Zugegeben, fruher hatte er stundenlang mit all den Dingen im Laden gespielt, aber das war lange her. Außerdem war doch klar, was Felina brauchte: nichts! Rasch ruckte er die Elfen und Drachen etwas weiter nach hinten ins Regal, damit sie vor Felina sicher waren.

»Wie schon die funkeln«, murmelte das Mädchen und strich uber die glänzende Haut der Feenkinder und die goldenen Schuppen des Drachen. »Das sieht man bestimmt auch im Dunkeln. Och, die Lampe da ist ja suß!« Sie trat zu einem Nachtlicht hinuber, das aussah wie ein pulsierendes rotes Herz, in dem ein Pfeil steckte. »Ob ich die von meinem Bett aus sehen kann?«

»Wenn du wie ich mit geschlossenen Augen schläfst, wahrscheinlich nicht«, sagte Lenni und grinste sie an.

Felina verzog keine Miene. »Ja, tue ich«, sagte sie. »Aber vor dem Einschlafen konnte ich das Licht sehen. Und wenn ich nachts aufwache.« Sie trat nun zu einem Roboter mit leuchtenden Knopfen und einem grunlich schimmernden Display.

Lenni sah von dem Roboter zu dem Mädchen und zuruck. »Nein, das ist nichts fur dich«, meinte er spontan. »Ich glaube, du magst es märchenhaft.«

Felinas Gesicht leuchtete auf. »Ich liebe Märchen!«, rief sie. »Woher...