Zwischenzeiten. Vom Erleben der mittleren Jahre

von: Marina Benjamin

Arche Literatur Verlag AG, 2020

ISBN: 9783037901267 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 17,99 EUR

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Zwischenzeiten. Vom Erleben der mittleren Jahre


 

Prolog


Ich wohne an einem kleinen Platz im Nordosten Londons. Die Gebäude – gepflegte frühviktorianische Reihenhäuser mit schlichten Fassaden – sind nichts Besonderes; drei Stockwerke, Sprossenfenster, die Küche im Souterrain und nach hinten raus ein handtuchgroßer Garten. Sie wurden zwischen 1850 und 1851 hastig hochgezogen, als die Stadt von der Industrialisierung zu profitieren begann und langsam in die Breite ging. Die Eile hat ihre Spuren hinterlassen. Ohne Fundament gebaut, stehen die Häuser dicht an dicht wie Bücher in einem vollgestopften Regal, jedes verlässt sich auf die Stütze des Nachbarn, und gerade Wände sucht man vergeblich. Die Türrahmen sind schief, die Böden hängen durch. Das ist zwar nicht immer mit bloßem Auge zu erkennen, aber wenn man eine Murmel kullern lässt, kommt sie irgendwann in der Mitte des Raums zu liegen.

Ich gehöre zu den Frauen, die ihr Zuhause in gleichem Maße gestalten wie andersherum: Als würde das Haus, in dem ich wohne, umgekehrt auch mich bewohnen, als hätten seine Räume, seine Reize, seine Marotten spiegelbildliche Entsprechungen in meiner Seele. Ich finde es schön, dass mein Zuhause sich den Jahren widersetzt hat, sich trotz des windschiefen Äußeren immer noch aufrecht hält. Ich erlebe mich zurzeit, an der Schwelle zur Fünfzig, sehr ähnlich.

Der Platz vor meiner Haustür beherbergt eine kleine, öffentliche Parkanlage, die auf ihre Weise ebenfalls Eingang in mich gefunden hat: Ein wildes Dreieck aus Grün, das den Großteil des Jahres über zugewuchert ist. Der Platz wird von einem Dutzend Platanen gesäumt, die sich wie riesige Wächter aus dem Boden erheben und ihre verzweigten Äste über die Hausdächer breiten, während der Park selbst so dicht bepflanzt ist, so zugewachsen mit kleinen Bäumen, Büschen und Gestrüpp, dass es von meinem Ende aus monatelang nicht möglich ist, die gegenüberliegende Häuserzeile zu erkennen.

Es war Liebe auf den ersten Blick. An einem schwülheißen Spätnachmittag irgendwann im Frühsommer 2002 bogen mein Mann und ich – gerade aus den USA zurückgekehrt und ich im siebten Monat schwanger – auf Häusersuche um die nächste Ecke und standen plötzlich vor einer grünen, von oben bis unten wilden Wand. Üppige Bäume, ungepflegt und schwer von duftenden Blüten, ließen trunkene Gliedmaßen über die Straße baumeln, und ungebändigte Büsche reckten ihre stacheligen Ausläufer in sämtliche Richtungen. Ich konnte in meiner Vorstellung schon den Lavendel riechen, Kirschblüten, Schlehdorn und den bitteren Unterton der letzten Rosen der Saison. Die schiere Fülle an wild sprießendem Blattwerk war überwältigend.

Während wir wie hypnotisiert dastanden und nicht fassen konnten, dass sich ein solcher Dschungel tatsächlich seinen Weg durch Ziegel und Asphalt gebahnt haben sollte, wurde in meinem Gehirn jene Region aktiv, die auf Orte reagiert, und setzte ein wahres neuronales Feuerwerk frei.

Ein paar Wochen später stand eines der Häuser plötzlich zum Verkauf, und wir schlugen zu. Nach zähen Verhandlungen und bis an die Grenzen des Möglichen verschuldet, zogen wir ein. Eine örtliche Legende besagt, die Platanen am Wilton Square wären so groß wie in keiner anderen Wohngegend der Stadt. Das glaube ich sofort.

Mir ist dieser Flecken Wildnis mitten in London im Laufe der Jahre aus vielen Gründen ans Herz gewachsen, vor allem als Symbol und Ausdruck kreativer Selbstvergessenheit. Der Platz ist widerspenstig und unbezähmbar – kratzbürstige, freudvolle Qualitäten, die den Parkaufsehern der Stadtverwaltung mit ihren Laubbläsern, Heckenscheren und Rasenmähern immer wieder die Stirn bieten. Diese stachelige Widerstandskraft dringt mir durch alle Poren und inspiriert mich. Wenn ich mit einem Text zu kämpfen habe, spornt der Platz mich zu Wagnissen an und zeigt mir, dass ich nichts zu verlieren habe. Einer prinzipiellen Lebenskraft gleich bestätigt er mir, dass Schöpfen Gedeihen bedeutet und dass es eine Haltung der Großzügigkeit braucht, um Dinge in die Welt zu senden, seien es Blüten, Blätter, Kinder oder Bücher. In der Gegenwart des Platzes will auch ich wachsen.

Meiner Tochter ergeht es offensichtlich ähnlich. Vor einigen Jahren, im Winter, als alles unter einer dicken Schneedecke begraben lag, rannte sie ins Freie, um Schneeengel zu machen, und versammelte gleichgesinnte Freundinnen aus der Nachbarschaft zum fröhlichen Selfieschießen. Neulich hat sie einen Baum adoptiert. Sie verschwand im Geäst, saß mit einem Buch auf dem Schoß gegen den Stamm gelehnt und vertrieb sich in ihrem belaubten Schlupfwinkel die Stunden zwischen Schule und Abendessen.

Jedes Frühjahr erwacht der Platz zu neuem Leben. Kinder rennen kreischend und johlend zwischen knospenden Rosen, Bärlauchteppichen und Schneeballbüschen herum. Frühmorgens führen Leute ihre Hunde aus, nachmittags treffen sich Mütter mit Kinderwagen auf den Bänken zum Plausch. Und in der Dämmerung versammeln sich Jugendliche, die billigen Schnaps trinken und von den Parkaufsehern, die kommen, um die Tore zu verschließen, verscheucht werden. Ich persönlich mag zwar die berauschenden Sommertage mit dem üppigen Überfluss an Grün und den fröhlichen Picknickern am liebsten, aber in meiner Familie überwiegen die Herbstliebhaber, weil sie nicht genug kriegen können von den tief gelb und leuchtend rot gefärbten Bäumen; als hätte sich nachts jemand rausgeschlichen und den Park bunt angemalt.

Kürzlich ist mir klar geworden, dass ich selbst bereits eine ganze Saison meines Lebens an diesem Ort verbracht habe. Als wir einzogen, war ich hochschwanger, und auch wenn ich damals schon nicht mehr jung war, war ich kraftvoll und vital, gestärkt von der Tatsache, dass in mir ein neues Leben wuchs. Es gibt irgendwo Nacktaufnahmen von mir im neunten Monat. Ich hatte meinen Mann gebeten, mich zu fotografieren, weil es mir nicht gelang, das Ausmaß der Transformation meines Körpers zu begreifen. Die Fotografien sollten forensisch sein, wie die Fotodokumentation, die einen Antrag auf Stadtentwicklung begleitet und aufgrund derer anonyme Bürokraten darüber entscheiden, welche Erweiterungen und Ausbauten strukturell sinnvoll sind und welche nicht. Beim Heraussuchen fällt mir wieder ein, dass es mir damals darum ging, meine maximale Expansion und meine hilflose Okkupation ungeschönt und sachlich zu dokumentieren. Da stehe ich, nackt vor den kahlen Badezimmerkacheln, erst frontal zur Kamera, dann im Profil. Ich überlasse meinem Bauch bereitwillig die Hauptrolle, weil mir wohl insgeheim schon damals klar war, dass dies meine einzige Schwangerschaftserfahrung bleiben würde.

Und so ist es auch: Ich bin Mutter eines Einzelkindes geblieben – eine Tochter, inzwischen fast schon ein Teenager. Heute, zwölfeinhalb Jahre später erkenne ich mich in der Frau auf den Fotos kaum wieder. Inzwischen bestehe ich nur noch aus scharfen Kanten, wulstigen Tränensäcken, knotigen Gelenken. Mein Teint ist fahl und meine Haare sind stumpf vom permanenten Färben. Ich bin quasi überreif, wie Sommerblumen kurz vor dem Verblühen, und es wäre gelogen zu behaupten, dass mir diese Veränderungen nichts ausmachen würden.

Draußen auf dem Platz wird es, während ich dies schreibe, gerade Frühling. Die Kirschbäume beginnen zu knospen. Die Pfingstrosen kommen aus der Erde. Narzissen wiegen sich im Wind, und die Sonne scheint. Schweren Herzens mache ich mir bewusst, dass ich kein Teil dieses Geschehens mehr bin, weil die Phase meines Lebens, die von Zyklen geprägt war, die mit dem Mond und den Gezeiten in Einklang war, mit den Stimmungen der Jahreszeiten, endgültig vorbei ist. Vor allem der Frühling liegt definitiv hinter mir. Ich laufe nicht einfach nur asynchron zu den Rhythmen der Natur, ich besitze keine Rhythmen mehr. Von meinem Arbeitszimmer unter dem Dach unseres Hauses beobachte ich die jungen Mütter auf dem Platz, wie sie sich unterhalten und dabei sanft ihre Kinderwagen schaukeln. Natürlich bin ich froh, mich weiterbewegt zu haben, mir einen Teil meines Lebens zurückerobert und meine Tochter, die schon die weiterführende Schule besucht, in die Welt entlassen zu haben wie einen Vogel in den Himmel. Gleichzeitig fühle ich mich abgehängt – als wäre ich die Einzige, die nicht mehr mitmachen darf.

Meistens schaffe ich es, derart trübsinnige Gedanken abzuschütteln und weiterzumachen, indem ich mir das Gute vor Augen halte, das mein Leben mir beschert: einen engen Familienverband, gute Freunde, meine Arbeit als Autorin und Lektorin (die auf ihre Weise genauso wechselbezüglich ist wie mein Konzept von Zuhause). Aber manchmal, wenn ich verzagt bin und das Gefühl habe, dass es nicht weitergeht, spüre ich am Rande meines Bewusstseins die Grautöne des Lebens näher kriechen. Ich spüre eine Welt der Nachmittage auf mich zukommen, des Dämmerlichts, des Herbstes, und danach eine Welt eisiger Winter und grüblerischer Dunkelheit. Ich bin noch nicht bereit für den Sonnenuntergang.

Über die Fotos gebeugt, staune ich über die Zeitreise, die hinter mir liegt. In meiner Vorstellung blende ich vom Bild meines alten Ich allmählich auf das neue über, als wäre der Zeitraffer das geeignete Fortbewegungsmittel für diese Reise. Ich sehe die Skoliose, die sich an meiner Wirbelsäule zu zeigen beginnt und meine Haltung allmählich nach rechts krümmt; sehe meine Brüste schwerer werden, absacken und langsam nach außen fallen; beobachte, wie die weiche, elastische Haut an den Oberarmen und über den Knien schlaff und pergamenthaft wird. Wann, frage ich mich, haben die glänzenden Adern auf meinen Waden angefangen, sich zu krümmen und knotig zu werden wie von Regenwürmern...