Von Herzen

von: Peter Spans

Atrium Verlag AG Zürich, 2020

ISBN: 9783037921630 , 350 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Von Herzen


 

UNGEHEUER


Eckerd liefen Tränen über die Wangen. Er stand eine Weile hinter Winnie, mit hängenden Schultern, die Keule in der losen Hand. Winnie lag nach vorn gesunken, das Gesicht mit einer Wange flach auf dem Tresen. Von hinten sah er aus, als ob er im Rausch eingenickt war, von der Seite leuchteten seine Augen von dem visionary flash, der ihn im letzten Moment ereilt hatte. Nur eine kleine Abflachung an seinem Hinterkopf war ein leicht zu übersehendes Indiz für den organischen Totalschaden, den die Keule im Inneren verursacht hatte. Eckerd hob Winnies grellorange Baseballkappe auf, zog sie ihm über den Kopf und wischte sich mit einem schweren Seufzer die Tränen aus dem Gesicht.

»Du bist ein … Ungeheuer

Eckerd fuhr herum.

Paul stand hinter ihm. Er wankte ganz nah an Eckerd heran. »Wie kannst du so was machen?!«

Eckerd spannte seine Muskeln an. Er packte die Keule hinter seinem Rücken fester. »Was meinst du?«

Paul spuckte, als er ihn anfuhr. »Du kennst mich überhaupt nicht! Du hast keine Ahnung, was ich durchgemacht habe! Und dann kommst du einfach daher mit der Wahnsinnsidee, ich soll einfach die Fresse halten und mich irgendwo still und leise umbringen. Weißt du, wie ich so jemanden nenne?! Ein Arschloch! Wie kannst du so was sagen? Noch mal zum Mitschreiben! Ein Arschloch

»Das freut mich.«

»Ach, das freut den Herrn? Hast du gut über mich gelacht?!«

Eckerd trat vor.

Paul kam in Rücklage.

»Es freut mich, dass du dich so aufregen kannst. Das heißt, dass noch Leben in dir steckt.«

Paul stieß an Winnie, entschuldigte sich, und als nicht der Hauch einer Reaktion kam, ging er in die Knie und spähte unter den Schirm der Baseballkappe. Er konnte Winnies Augen nicht sehen, wohl aber seinen aufstehenden Mund. Sein Kiefer war auf dem Tresen kleben geblieben, als sein Körper zusammengesackt war, der Mund war dadurch aufgeklappt und hatte die leuchtend weißen Schneidezähne freigelegt, die herausstanden, als ob sie am Tresen nagen wollten. Paul trat zur Seite. »Hast du dir den mal angesehen? Der ist voll weggetreten.«

»Hast du dich langsam abgeregt?« Eckerds Stimme klang müde, fast brüchig. Seine Augen waren gerötet. Er sah unglücklich aus.

Paul wollte es nicht, aber es machte ihn betroffen. »Alles okay mit dir?«

Eckerd lehnte sich auf den Tresen. »Geht schon. Ich kümmere mich gleich um ihn.« Er ließ die Keule heimlich hinter den Tresen gleiten.

Paul schob ihm Klaras durchnässte dreißig hin. »Okay … dann werd ich jetzt mal gehen. Ich hoffe, das reicht.«

»Behalt das. Hör mal, ich verstehe, dass dich wütend gemacht hat, was ich gesagt habe. Entschuldige, aber hier war die Hölle los. Möchtest du meinen Vorschlag noch hören?«

Nein, möchte ich nicht! Ich will jetzt los und mich umbringen!

»Ja, klar …« Paul spähte hinter sich. Hier ging es um wirklich private Dinge, und er wollte nicht, dass irgendwer etwas davon mitbekam, aber der Kopf des Sturzbesoffenen lag noch genauso auf dem Tresen wie vorher. »Sag mal, wollen wir den nicht auf ne Bank legen oder so?«

»Gleich. Du bist jetzt wichtiger.«

Paul konnte nicht anders, als sich geehrt zu fühlen. Und die Aussicht, kurz vor Schluss Eckerd noch mal ein wenig über sich erzählen zu können, war verlockend. Schließlich war Eckerd der letzte Mensch, der mit ihm gesprochen haben würde.

Hinter Eckerd, Meter entfernt am Ende der Bar, tauchte plötzlich die Pilotin auf und lehnte sich an den Tresen. Sie sah zu ihnen herüber. Pauls Hochgefühl sank. Wenn sie kam und zuhörte, war das etwas ganz anderes. Sie würde auch heraushören, was er nicht erzählen wollte, da war er sich sicher.

Paul beugte sich zu Eckerd. Er flüsterte. »Was macht sie da?«

Eckerd drehte sich zu der Pilotin um. »Was machst du da?«

Ihr Mund formte Worte, die Paul nicht verstand.

Eckerd schon. »Sie guckt, was du so machst.«

»Ah.«

Eckerd winkte sie heran. Sie blieb hinter seiner Schulter und musterte Paul. Es machte ihn nervös.

»Du redest nicht gerne, oder?«

Sie sprach etwas in Eckerds Ohr.

Eckerd sprach. »Gerade nicht.«

»Ah.«

Paul war sich selten dümmer vorgekommen. Sie flüsterte wieder in das Ohr, ohne den Blick von Paul zu nehmen.

Das Ohr sprach. »Sie fragt, wie’s so geht. Gut?«

»J-ja danke. Geht gut.«

Sie trat vor, um Winnie zu mustern. Seine Hand hielt noch den Fuß des riesigen Cocktails, dessen üppiges Fruchtbouquet hoch über ihm aufragte. Marthe sah Eckerd besorgt an. Er sah traurig aus.

»Er ist vor dem Tropic Thunder in einen sicheren Hafen gesegelt.«

Marthe lächelte, aber offensichtlich war sie zu müde, der Allegorie zu folgen. Sie schüttelte ihre Skepsis mit einem Schulterzucken ab, flüsterte Eckerd etwas ins Ohr und zeigte bedeutsam nach oben. Er nickte. Dann lächelte sie Paul noch einmal unverbindlich zu und verschwand im Dunkel neben der Bar.

Paul wartete, dass Eckerd das Geflüsterte wieder übersetzte, aber er tat es nicht. Paul verpackte seine Neugier.

»Deine Schwester, richtig?«

»Ja, Marthe.«

»Ah. War’s was Wichtiges?«

»Vielleicht. Sag mal, ist da wirklich keiner, der sich um dich schert?«

»Nein, wieso?«

»Weil mich das fertigmachen würde.«

»Ich hab kein Telefon, ich hause in einer verlassenen Werkstatt. Wer sollte da hinkommen? Okay, letztens ist da so ne Göre aufgetaucht, die dachte, das ist n Abenteuerspielplatz oder so, aber sonst, nein.«

Eckerds Finger tappten einen Rhythmus auf dem Tresen.

»Vorhin … Ich hab echt nicht gemeint, dass du dich umbringen sollst. Das ist so unsagbar traurig, wenn sich einer selbst umbringen muss. Ist auch grausam, wenn es schiefgeht.«

Es dauerte, bis Paul ahnte, auf was Eckerd hinauswollte. »Du meinst nicht etwa, ich soll mich umbringen lassen

Eckerd streckte sich, seine Hand suchte etwas hinter dem Tresen. Sie fand es. »Wenn das die einzige Lösung wäre: ja.«

Paul war kurz davor, wieder in seinen Wutmodus zurückzufallen, bis ihm klar wurde, welche unfassbare Bürde, welches Gebirge aus Bürden das von ihm nehmen würde.

Daran hast du nie gedacht. Wie auch? Um so etwas kann man ja schlecht jemanden bitten.

»Wie soll das gehen?«

Eckerds Arm schnellte nach vorn.

Paul zuckte von einem trockenen Knall zusammen, und er hätte nicht sagen können, ob er von außen oder von innen kam. Er zuckte zusammen, aber sein Geist erhob sich in der berauschenden Schwerelosigkeit genommener Last.

Eckerd füllte ein Glas mit dem Sekt, mit dessen knallendem Korken er Pauls Selbstumkreisungen hatte unterbrechen wollen. Das andere füllte er mit Wasser.

Pauls Herz raste, aber in seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Das war eine ganz neue Farbe auf der Palette! Wenn er sich umbringen lassen konnte, wäre das Problem seines würdevollen Abgangs gelöst, denn der, der ihm diesen unglaublichen Gefallen tat, hätte Kontrolle über die Umstände, in denen man ihn fand. Er könnte dafür sorgen, dass man ihn in Würde und unter gepflegten Umständen fand, und dafür, dass die Situation keinen Spielraum für negative Interpretationen ließ. Paul sah Eckerd genau an. Würde er das ernsthaft für ihn tun? Eckerd hob feierlich sein Glas.

»Was hältst du davon: Du wirst unser Oberkellner!«

»Bitte?«

»Du. Hier. Kellner.«

Paul fühlte sich, als ob er durch die Himmelspforte gebeten und direkt wieder hinausgestoßen worden war. Neben bodenloser Enttäuschung fühlte Paul, wie sehr ihm jedes Gefühl für Moral abhandengekommen war. Dass er ernsthaft geglaubt hatte, dass ihn ein Barbesitzer, den er gerade erst kennengelernt hatte, aus Nächstenliebe umbringen und für die Nachwelt inszenieren würde … Kellner. Paul winkte ab.

»Völlig ausgeschlossen. Das würde nie funktionieren.«

»Warum? Für mich hast du die allerbesten Referenzen.«

»Ich mache Menschen Angst. Wenn ich hier anfange, würde es hier so leer sein wie Tschernobyl nach dem Gau.«

»In den Grenzgebieten, in denen sich viele unserer Gäste bewegen, kennst du dich bestens aus.«

»Auskennen? Ich werde mich umbringen. Heute. Außerdem habe ich noch nie als Kellner gearbeitet.«

»Du warst doch Polizist. Ist fast dasselbe. Du kriegst ein Signal, kommst dahin, hörst dir was an, schreibst es auf und berichtest, es geht den üblichen Dienstweg, und am Ende fährst du noch mal hin und guckst nach dem Rechten.«

Paul schüttelte entschieden den Kopf. Eckerd schnitt mit dem Kellnermesser ein Stück von dem Sektkorken ab und presste ihn zurück in den Flaschenhals.

»Es war nur eine Idee. Ein Vorschlag. Nimm den Champagner und denk noch mal drüber nach. Ich könnte jedenfalls dringend Hilfe gebrauchen. So, und jetzt kümmere ich mich mal um unseren Freund hier.«

»Ich helf dir.«

Eckerd sah Paul eindringlich in die Augen. »Geh und entscheide, Paul Paulsen.«

Paul drehte sich um. Eckerd sah ihm hinterher, bis er mit der Sektflasche durch den Vorhang getrottet war. Es wurde wunderbar still. Eckerd trank Wasser, legte das kühle Glas an die Stirn und atmete tief durch.

»Heilige Exkremente! Bestärke mich, sollte ich je solches Getränk von dir fordern!«

Eckerd fuhr herum.

Felix wedelte mit Winnies Baseballkappe.

»Unser Entrepreneur scheint seine Performance ein zweites Mal deutlich überschätzt zu haben. Wäre es möglich, dass ihm ärztliche Kompetenz zuteilgebracht werden muss? Wenn ihr mal schauen wollt, das wird ein grausamer Kater!«

»Ich glaube, der Kater wird sich in...