Tannenruh - Schwarzwaldkrimi

Tannenruh - Schwarzwaldkrimi

von: Willi Keller

Gmeiner-Verlag, 2020

ISBN: 9783839266007 , 343 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Tannenruh - Schwarzwaldkrimi


 

Kapitel 1


»Sehnsucht nach der Waldgegend« war es nicht, was ihn trieb. Dieser Wald mit seinen Geheimnissen, seinen bedrohlichen Bäumen, seiner tiefen Dunkelheit wühlte ihn jedes Mal auf, wenn er in ihn drang.

Er schaute nach oben. Am trüben Himmel kreiste in regelmäßigen Bahnen ein Raubvogel. Er hatte ihn schon häufiger beobachtet. Die Brust des Tieres zierte ein helles Band. Manchmal blieb er stehen, um dem Raubvogel mit seinen breiten Flügeln zuzuschauen. Dessen ruhige, ästhetische Bewegungen, die einem entspannenden Tanz mit ausgebreiteten Armen glichen, beeindruckten ihn. Die Natur schuf die besten und schönsten Choreografien. Nur bei ein paar wenigen Tänzen hatte er sich von der Tierwelt inspirieren lassen. Warum hatte er nicht intensiver Vögel und andere Tiere studiert, ihre Art, sich zu bewegen? Diese späte Erkenntnis setzte ihm zu, weil sie ihm bewusst machte, dass sein Zeitkonto immer kleiner wurde. Er hatte sich zu sehr der Tradition verbunden gefühlt, obwohl er neuen Stilrichtungen und Ideen gegenüber aufgeschlossen war. Zu Hause musste er sich unbedingt mit dem Thema Choreografie der Natur auseinandersetzen. Zu Hause? Seit seiner Ankunft hier fragte er sich jeden Tag: Wo war eigentlich sein Zuhause? Dort über dem großen Meer oder hier in diesem dunklen Wald? Er konnte diese Frage bis heute nicht beantworten.

Der Raubvogel drehte weiter seine Runden. War es sein Schutzvogel, der seine Schritte überwachte? Hoch über den Bäumen stieß er plötzlich einen Schrei aus. Er ähnelte dem Miauen einer Katze. Ein weiterer Schrei folgte, der wie eine Warnung klang. Vor was wollte ihn der Vogel warnen? Der Schrei hatte ihn aufgeschreckt. Als mahne ihn das Tier, schnell umzukehren. Er wunderte sich, dass ihn die Schreie bisher nicht beeindruckt hatten. Er hatte sie doch nicht zum ersten Mal gehört. Meistens versank er bei seinen Waldläufen so sehr in Gedanken, dass sich alles nach innen richtete und das Außen verschwamm.

Er schaute auf seine Armbanduhr. Die Zeit drängte zur Rückkehr. Rund fünf Kilometer musste er gehen. Als er aufblickte, war nichts mehr von dem Vogel zu sehen. Einzelne Schneeflocken sanken langsam vom Himmel herab. An der Rezeption im Hotel hatte man ihm gesagt, am späten Nachmittag oder frühen Abend werde es schneien. Im April sei das hier oben nicht ungewöhnlich. Er sah sich noch einmal um. Hier hatte er gelebt bis zu jener Aprilnacht 1945. Er konnte sich an nichts mehr erinnern. In dieser kleinen Siedlung war er zur Welt gekommen. Vergeblich hatte er gehofft, beim Anblick der vier Häuser werde die Vergangenheit wieder wach. Nichts geschah in seinem Kopf. Kein Bild tauchte auf, kein Mensch, keine Mutter, kein Vater, keine Geschwister, keine Tanten, keine Onkel, keine Nachbarn. Keine Innenansichten seines Elternhauses. Keine Rückblende. Keine Gefühle. Eine Begegnung, die nichts auslöste.

Sie hatten ihm alles weggeschossen in jener Nacht: die Familie, die Erinnerung, das Lächeln. Das Lächeln? Hatte er jemals gelächelt? Oder gelacht? Hatte er mit seinen Geschwistern gespielt, mit den Nachbarkindern? Wie viele Menschen hatten in dieser Siedlung gelebt? Wie waren sie miteinander umgegangen? Hatten sie sich gut verstanden? Wer hatte in jener Nacht geschossen? Und warum?

Fragen eines verstörten Rückkehrers, wie er sich sah, die niemand beantwortete. Auch nicht der junge Historiker. Wobei er sich korrigieren musste. Der junge Historiker wusste sicher mehr als andere über diese Gegend und jene Nacht. Denn er hatte angedeutet, dass er ihm möglicherweise weitere Einzelheiten mitteilen könne. Die Einschränkung »möglicherweise« gefiel ihm nicht. Er brauchte Gewissheit. Wenn der Heimatforscher ihm nichts Entscheidendes sagen konnte, wozu sollte dann ein weiteres Treffen gut sein? Aber er war es, der den Historiker zu diesem erneuten Treffen gedrängt hatte, nicht umgekehrt. Einen Termin hatten sie bereits vereinbart. Vielleicht kam er doch noch zu neuen Erkenntnissen.

Der junge Historiker hatte sich geweigert, sich beim ersten Treffen im Hotel Schatzhauser zusammenzusetzen. Einen Grund hatte er nicht genannt. Aber er hatte versprochen, ihn zu unterstützen. Und er hatte Wort gehalten. Der junge Mann hatte ihn mit seinem Wagen abgeholt und war mit ihm zu einem Hotel am Mummelsee gefahren. Die Fahrt hatte ebenfalls nichts in seinem Kopf ausgelöst. Als sie am Hotel ankamen, zeigte sich, dass an einen Spaziergang rund um den See bei dieser ersten Begegnung nicht zu denken war, auch wenn das die Pläne des Historikers durchkreuzte. An einigen Stellen war der Weg noch zu sehr vereist. Ob er sich in seiner Kindheit auch an diesem See aufgehalten hatte?

Im Hotel am See setzten sie sich in eine ruhige Ecke mit Sicht auf alles im Raum. Nur langsam kam ein Gespräch in Gang. Das lag nicht an der Sprache. Sie unterhielten sich auf Deutsch. Der Historiker war auffallend nervös. Ständig rührte er mit dem Löffel in der Kaffeetasse, obwohl er keinen Zucker und keine Milch genommen hatte. Die Nervosität übertrug sich auf ihn. Er war froh, als der junge Mann sagte, sie müssten jetzt aufbrechen, sonst schafften sie den Weg zu ihrem Ziel nicht mehr. Vielleicht wäre der Heimatforscher offener gewesen, wenn er ihm gesagt hätte, wer er in Wirklichkeit war. Nachdem sie das Hotel verlassen hatten und wieder zum »Schatzhauser« zurückgekehrt waren, hatte ihn der Historiker zu der kleinen Siedlung geführt. Ohne fremde Hilfe hätte er diesen schmalen Pfad nicht gefunden, obwohl er in der Nähe des Hotels begann. Seither war er immer wieder hierhergekommen.

Bei ihrem bevorstehenden Treffen musste er sich zu erkennen geben und alles offenbaren. Sonst würde er nichts mehr erfahren. Wahrscheinlich hatte sich der Historiker schon Gedanken über seine Identität gemacht und eins und eins zusammengezählt. Das Versteckspiel hatte ihm nicht viel gebracht.

So oft er hier nach seiner Vergangenheit suchte, sah er nur vier zerfallene Häuser. Aus der Entfernung wirkte die Siedlung wie ein verfaultes Gebiss mit wenigen Zahnstümpfen. Das erste Gebäude, das größte, war sein Elternhaus. Das Dach war eingestürzt, die Fenster waren schon lange zerstört. Aus der Ruine wuchsen Büsche und ein Baum. Bei seinem zweiten Besuch hatte er versucht, in das Haus zu kommen. Aber er hatte schnell aufgegeben, als irgendetwas im Gebäude mit einem lauten Knall zusammengebrochen war. Die anderen Häuser sahen nicht viel besser aus. Bei jedem Gang zu seiner Vergangenheit erkundete er auch das Sägewerk hinter den Häusern und den kleinen Friedhof, der sich in der Nähe befand. Dort lag seine Familie begraben. Der Friedhof war überwuchert. Gräser, niedriges Buschwerk und Efeu bedeckten den in mehrere Teile zerbrochenen großen Grabstein. Die Namen seiner Familienangehörigen konnte er nicht mehr entziffern. Vor langer Zeit war offensichtlich ein Baum auf den Grabstein gestürzt und hatte ihn umgeworfen. Nur noch wenige Spuren deuteten darauf hin – der Baum hatte sich größtenteils aufgelöst, wie die Siedlung, die in Namen- und Erinnerungslosigkeit zerfiel. Offenbar hatte niemand Interesse daran, sie dem Verschwinden zu entreißen. Aber warum? Mit jedem Tag, mit jedem Besuch dieses versinkenden Ortes vermehrten sich die Fragen.

Auf dem Weg zum Hotel fiel ihm der Tag seiner Ankunft ein, in allen Einzelheiten.

»Sie sind der Gast aus Argentinien?«

Was für eine Frage! Er nickte. Ja, er war der Gast aus Argentinien.

»Sprechen Sie Englisch?«

»Sie können deutsch mit mir reden.« Er spürte die Erleichterung des Mannes an der Rezeption.

»Das Hotel Schatzhauser heißt Sie herzlich willkommen. Wir wünschen Ihnen einen guten Aufenthalt. Um Ihr Gepäck werden wir uns gleich kümmern. Wenn Sie bitte noch unseren Meldezettel ausfüllen wollen.«

Es war der übliche Empfang in einem Hotel, wie er ihn oft erlebt hatte. Aufgesetzte Freundlichkeit und Standardsätze. Ein zielgerichteter, wirtschaftlicher Umgang mit Sprache. Der Anmeldeschein wurde ihm hingeschoben. Vorname: Gustavo Alejandro Pedro. Nachname: Borges. Lüge Nummer eins: Borges war nicht sein richtiger Geburtsname. Er hatte mehrere Namen: seinen deutschen Geburtsnamen, seinen argentinischen Namen, ein Pseudonym, das er selten benutzte, und einen Künstlernamen. Geburtsdatum: 8.3.1939. Geburtsort: Buenos Aires. Lüge Nummer zwei. Seine große Lebenslüge: Die Hauptstadt Argentiniens war nicht sein Geburtsort. Staatsangehörigkeit: argentinisch. Keine Lüge, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Seine Staatsangehörigkeit war nicht immer argentinisch gewesen. Doch zu seinem Glück fragte nie jemand nach seiner Vergangenheit. Wahrscheinlich wäre auch niemand auf die Idee gekommen, dass er kein gebürtiger Argentinier war. Er hatte sich in der argentinischen Kultur entfaltet, sprach akzentfrei die Landessprache. Auch seine Hautfarbe ließ nicht auf eine mitteleuropäische Abstammung schließen. Und schon gar nicht sein Name, den er in den Anmeldeschein eingetragen hatte. So musste er sich mit niemandem über seine geheimnisvolle Vergangenheit unterhalten, aus der nichts auftauchte, zu der er keinen Zugang fand. Das Ausfüllen von Formularen und Meldescheinen erinnerte ihn jedes Mal an seine Lebenslügen, mit denen er sich mehr oder weniger arrangiert hatte.

Wortlos schob Gustavo Borges den Anmeldezettel zurück. Ein Angestellter nahm seine beiden großen Koffer und fuhr mit dem Aufzug nach oben. Er selbst nahm die Treppe. Das Zimmer befand sich im ersten Stock und roch angenehm nach Holz. Es war außergewöhnlich groß, mit einem Doppelbett, einer Leseecke, einem Schreibtisch aus Holz, einem begehbaren Wandschrank und einem Flachbildschirm an der Wand. Auch das Badezimmer war geräumig gestaltet. Vom Balkon mit zwei...