Mühlviertler Grab - Kriminalroman

Mühlviertler Grab - Kriminalroman

von: Eva Reichl

Gmeiner-Verlag, 2020

ISBN: 9783839266069 , 348 Seiten

5. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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Mühlviertler Grab - Kriminalroman


 

1. Kapitel


Oskar Stern wurde vom Läuten seines Handys geweckt. Er blinzelte. Draußen war es noch dunkel, demnach konnte er nicht verschlafen haben. Er griff nach dem Smartphone, das störend auf dem Nachtkästchen vibrierte, und wischte über das Display.

»Chef! Wir haben einen neuen Fall«, drang die Stimme von Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht aus dem Lautsprecher an sein Ohr.

»Wo?«, war alles, was Stern imstande war zu fragen. Sein Gehirn kam nur langsam in die Gänge und weigerte sich, auf das eben Gehörte angemessen zu reagieren. Schließlich war es unter der Bettdecke kuschelig warm, und Stern fühlte sich, als wäre er erst vor wenigen Augenblicken eingeschlafen.

»In St. Oswald bei Freistadt.«

Stern brummte und hielt dabei die Augen geschlossen. Er wünschte, er könnte ein paar Minuten länger im Bett liegen bleiben.

»Stern?« Grünbrechts Stimme drang fordernd aus dem Handy.

»Ich komme ja schon«, grummelte er.

»Soll ich auf Sie warten und Sie mitnehmen?«, fragte Grünbrecht. Es war ihr anzuhören, dass sie das lieber nicht tun wollte.

»Nein. Ich brauche noch eine Weile«, erwiderte Stern, und das war nicht übertrieben. Bevor er einsatzfähig war, benötigte er mindestens eine Tasse starken Kaffee. Vielleicht sogar zwei. Das war etwas, das sich mit zunehmendem Alter veränderte. Die Agilität verlangte oftmals eine gesonderte Einladung, um sich zu zeigen. Außerdem hatte er ein weiteres Hindernis zu überwinden, und das war der eigentliche Grund, weshalb er etwas mehr Zeit brauchte. Es wartete bestimmt bereits in der Küche auf ihn.

»Okay. Wir sehen uns dann auf dem Friedhof.«

»Auf dem Friedhof? Wieso auf dem Friedhof?« In Sterns Gehirn schrillten die Alarmglocken. Es konnte wohl kaum sein, dass die St. Oswalder die Leiche jetzt schon für das Begräbnis bereit machen wollten? »So schnell geht das aber nicht, wenn jemand stirbt, dass man den auf den Friedhof bringen kann, wenn der noch gar nicht …«

»Nein, Chef. Der Friedhof ist der Fundort der Leiche«, fiel Grünbrecht ihm ins Wort.

»Okay.« Stern beruhigte sich. »Wir sehen uns also nachher auf dem Friedhof.« Er beendete das Gespräch und wälzte sich aus dem Bett. Geräusche in seiner Wohnung hatten ihn die halbe Nacht wachgehalten, und auch in diesem Moment war ein Poltern zu hören. Ebenso ein Kratzen an der Schlafzimmertür. Es kam ihm vor, als lebte er mit einer Horde Poltergeister zusammen. Er schlüpfte in Hose und Hemd und schlurfte zur Tür. Ein starker Kaffee würde seine müden Knochen zum Leben erwecken, hoffte er, und danach wollte er nach St. Oswald aufbrechen. Er drückte die Klinke, zu seinen Füßen rollte ein Fellknäuel in den Raum. Und noch eines.

»Na, ihr beiden? Ihr habt es heute Nacht aber ordentlich krachen lassen. Ich verpetze euch bei eurer Mutter, da könnt ihr Gift drauf nehmen.« Er stieg über die kleinen, gerade mal zehn Wochen alten Kätzchen hinweg in den Flur. Die aufgedrehten Mitbewohner sausten purzelnd hinter ihm her und holten ihn auf halbem Weg in die Küche ein. Seit Wochen ging das schon so. Er konnte keinen Schritt mehr machen, ohne befürchten zu müssen, auf eines der Tiere zu treten.

Vor zweieinhalb Monaten war er von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte festgestellt, dass eine fremde Katze, die zweifelsohne durch ein offenes Fenster in seine Wohnung geklettert war – was im strafrechtlichen Sinn Hausfriedensbruch und widerrechtliches Betreten bedeutete – im Wohnzimmer ihre Jungen zur Welt gebracht hatte.

Eine Sauerei war das gewesen!

Stern erinnerte sich nur ungern daran, wie er alles hatte putzen müssen. Anschließend hatte er die Nachbarn gefragt, ob die Katze ihnen gehöre, aber niemand hatte der Besitzer der nunmehr vierköpfigen Familie sein wollen, und Stern hatte es nicht übers Herz gebracht, die alte Streunerin samt ihrem Nachwuchs auf die Straße zu befördern – Hausfriedensbruch hin und widerrechtliches Betreten her. Anfangs war die Sache auch ganz harmlos gewesen, da hatten die Rabauken die meiste Zeit an den Zitzen der Mutter gehangen und geschlafen. Aber seitdem sie angefangen hatten, die Umgebung zu erkunden, machten sie Sterns Wohnung unsicher und ließen ihn nachts nicht schlafen.

In der Küche stellte er eine Schüssel mit Katzenfutter zu Boden, auf das sich die hungrigen Mäuler gierig stürzten, bereitete sich selbst eine Tasse Espresso zu und säuberte, während die Kaffeemaschine geschäftig surrte, das Katzenklo. Mit der Tasse in der Hand beobachtete er die Rasselbande und überlegte, dass es nun langsam an der Zeit war, für die Findelkinder eine neue Bleibe zu suchen. Dann hätte auch er endlich wieder seine Ruhe, und die Streunerin könnte ihres Weges ziehen.

Seine Enkelkinder Melanie und Tobias würden sich über ein Haustier bestimmt freuen. Für sie hatte er ein schwarz-weiß geflecktes Kätzchen ausgewählt, das gefiele ihnen bestimmt am besten. Ihm musste nur noch einfallen, wie er seine Tochter Barbara überzeugen konnte, seinen Enkeln ihren langersehnten Wunsch nach einem Haustier endlich zu erfüllen.

Das Fell des zweiten Kätzchens war gestreift, bis auf den weißen Bauch und die ebenso weißen Pfoten. Dieses wollte er Bormanns Sekretärin schenken. Wenn er der Gerüchteküche im Landeskriminalamt Glauben schenken durfte, hatte sie sich erst kürzlich von ihrem langjährigen Freund getrennt und war nur noch heulend im Vorzimmer des Dienststellenleiters anzutreffen. Da wäre ein Schmusetiger, mit dem man Kuscheln und den man streicheln konnte, genau die richtige Ablenkung, fand er. Und für das dritte Kätzchen, ein astreiner grau-brauner Tiger, der wild und klug zugleich zu sein schien, würde ihm auch noch etwas einfallen.

Eine halbe Stunde später verließ er die Wohnung und fuhr mit seinem grauen Audi A6 auf der A7 Richtung Freistadt. Nach gut 40 Minuten erreichte er St. Oswald und bog bei der ersten Kreuzung rechts ab, da er den Turm der Kirche bereits erspähte. Dort in der Nähe musste der Friedhof sein, schlussfolgerte er, was sich nach der nächsten Kurve als richtig erwies. Ein blau blinkendes Lichtermeer empfing ihn, als hieße es ihn trotz des traurigen Anlasses willkommen.

Stern hielt nach Webers Wagen Ausschau. Durch die Versorgung der Katzenfamilie war er später losgekommen als üblich, dennoch hoffte er, vor dem Gerichtsmediziner eingetroffen zu sein. Zwischen ihnen beiden gab es diesen unausgesprochenen Wettkampf, wer als Erster an einem Tatort war. Von einem unerklärlichen Ehrgeiz gepackt – den Stern zwar jedem gegenüber abstreiten würde, sollte man ihn darauf ansprechen –, wollte er diesen Wettkampf jedes Mal unbedingt gewinnen wie ein Schuljunge, dem gerade die Hormone einschossen.

Als der Audi näherrollte, entdeckte er Webers Wagen direkt vor dem Friedhofseingang. Mist, fluchte er innerlich und parkte ein gutes Stück weiter hinten am Straßenrand. Wäre er tatsächlich vor Weber hier gewesen, würde er es ihm sofort unter die Nase reiben, sobald dieser einträfe. So aber beschloss er, Webers Sieg mit keinem Wort zu erwähnen, ihn einfach zu ignorieren und dessen Bedeutsamkeit, falls notwendig, herunterzuspielen.

Die Kollegen hatten den Friedhof längst abgesperrt. Ein paar neugierige St. Oswalder flankierten die Pforte in der Hoffnung, sie könnten einen Blick auf das Geschehen in der Gräberanlage werfen. Ein Aufgebot an Einsatzfahrzeugen wie dieses blieb natürlich nicht unbemerkt. Stern war sich sicher, dass bald der ganze Ort darüber Kenntnis erlangen würde. Doch sie waren hier durch Mauern vor neugierigen Blicken geschützt. Der Friedhof glich einer Festung, gerade jetzt, wo die Eingänge von Uniformierten bewacht wurden, die nur autorisierte Personen hindurchließen. Die Abschottung durch die Eingrenzung der Mauern war zwar gut für die Bestandsaufnahme des Tatortes, aber schlecht für die Ermittlungen, da der Täter wahrscheinlich seine Tat genauso ungestört hatte vollziehen können. Es würde schwer werden, Augenzeugen zu finden.

Stern übertrat die Schwelle zum Friedhof und erkannte sofort, wohin er sich wenden musste. Ermittler und Spurensicherer standen um eines der Gräber versammelt, als wären sie andächtig in ein Gebet versunken. Er konnte sich nicht erinnern, die Kollegen jemals so einträchtig gesehen zu haben. So friedlich …

Oder vor Schock gelähmt?

Denn üblicherweise waren sie geschäftig, jeder ging seiner Arbeit nach und ein reges Treiben beherrschte den Tatort. Als er näherkam, verstand er, was der Grund für ihr ungewöhnliches Verhalten war.

»Chef, wir haben auf Sie gewartet. Wir meinten, Sie sollen das genau so sehen, wie wir es vorgefunden haben«, empfing ihn Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht mit einer Erklärung anstatt eines Grußes. Die Körperhaltung der Leiche ließ Stern wissen, dass seine Kollegen richtig gehandelt hatten.

»Grüß euch«, sagte er abgelenkt, da sein Gehirn bereits die ungewöhnliche Darstellung auf dem Grab aufzunehmen versuchte.

Eine Person kniete inmitten von rosa blühenden Rosen auf einer mit Granit eingefassten Grabstätte, der Kopf hing nach unten, die Hände waren vor dem Leib mit Kabelbindern festgezurrt. Stern musste sich bücken, um dem Opfer ins Gesicht blicken zu können, damit er wusste, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte. Es war eindeutig ein Mann, Mitte 30, schätzte er. Er erhob sich und umrundete das Grab. Die Kollegen wichen zurück, damit er auf den schmalen Wegen zwischen den Gräbern genügend Platz fand. Die Haare des Toten waren feucht, klebten ihm an Stirn und Nacken. Stern fragte sich, ob es letzte Nacht geregnet hatte,...