Nichts als die Wahrheit - Bekenntnisse eines Radsport-Insiders

Nichts als die Wahrheit - Bekenntnisse eines Radsport-Insiders

von: Rudy Pevenage, John van Ierland

Delius Klasing Verlag, 2020

ISBN: 9783667120076 , 256 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 3,99 EUR

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Nichts als die Wahrheit - Bekenntnisse eines Radsport-Insiders


 

DAFÜR BIST DU NOCH ZU KLEIN


1954–1968


Bill Haley & His Comets nehmen 1954 Rock Around The Clock auf, ganz Belgien steht wegen Bobbejaan Schoepens etwas ruhigerem Bimbo Kopf; das belgische Parlament ist fest in der Hand der Sozialisten und Liberalen unter der Führung von Achiel Van Acker. Die Bundesrepublik Deutschland gewinnt den Weltmeistertitel in der Schweiz durch einen 3:2-Sieg über Ungarn, und der Franzose Louison Bobet siegt bei der Tour de France, bei der sich der Belgier Fred De Bruyne drei Etappen sichern kann.

Die großen Leistungen des in Berlare geborenen De Bruyne fesselten die Bewohner des 30 Kilometer südlich gelegenen Moerbeke ans Radio. Nach einem weiteren Sieg von De Bruyne wird der drei Wochen alte Rudy von Vater Edgard, einem fanatischen Anhänger des Radsports, begeistert aus der Wiege gehoben. »Ja, kleiner Mann, du wirst auch Radfahrer, genau wie Fred.«

Rudy Pevenage kam am 15. Juni 1954 in Moerbeke zur Welt, einem kleinen Dorf in der Nähe von Geraardsbergen, das innerhalb der Radsportgemeinde für die mit Kopfsteinpflaster berüchtigte Muur van Geraardsbergen hoch auf den Oudenberg bekannt ist. Heute steht der beschwerliche Anstieg bei etwa siebzig Rennen auf dem Programm, aber 1954 hatte der robuste Wadenbeißer – genau wie Rudy – nicht so viel zu bieten. Zum ersten Mal musste der Anstieg, auch Hügel oder Helling genannt, 1951 im Rahmen von Gent–Gent erklommen werden. Das Rennen wurde erstmalig 1945 ausgetragen und galt als der Eröffnungsklassiker der Radsportsaison. Der Abstecher zur Mauer brachte der Region viel Renommee ein, und bald entwickelte sich die Stadt in Ostflandern zu einer Art Mekka für Radsportbegeisterte. Seitdem ist es fast unmöglich, als Einwohner von Geraardsbergen und Umgebung einem fröhlichen Virus namens Radfahren zu entkommen.

»Die Muur … Man fuhr nicht dort hinauf, um mal ganz entspannt zu trainieren. Es ist ein schrecklicher Hügel, der einen leiden lässt. Die Oberflächen der einzelnen Pflastersteine sind waagerecht angeordnet, sodass jede neue Reihe wie eine Treppenstufe wirkt2. Mit dem Fahrrad nur sehr schwer zu erklimmen, und wenn es regnet, ist es erst recht eine Qual.

Wenn Sie in der Gegend sind und eine Radtour unternehmen wollen, umfahren Sie die Muur. Aber es ist in der Tat ein Denkmal, auf das ich sehr stolz bin.

Wir wohnten in Moerbeke an der Pirrestraat, einer Sackgasse mit überwiegend Ein- und Zweifamilienhäusern. Genau wie die Muur bestand die Straße aus platt geklopfter Erde und Kopfsteinpflaster. Im Winter musste man bei jedem Schritt aufpassen, sonst rutschte man leicht aus, während im Sommer teils schrecklich viel Staub aufgewirbelt wurde.

Wir wohnten in einer sogenannten Doppelhaushälfte. Ich habe dort meine Kindheit verbracht. Neben meinen Eltern bestand unsere Familie noch aus meinen beiden Schwestern Henny und Daisy, sechs und zwei Jahre älter als ich. Ich bin der Jüngste, der »Pfannkuchen«, wie man bei uns sagt. Meine Schwestern meinten, dass meine Mutter nach zwei Töchtern gern einen Jungen wollte. Als ich geboren wurde, machte meine Mutter vor Freude einen Luftsprung, zumindest soweit ihr das in jenem Moment möglich war. Das bekomme ich bis heute zu hören.

An diese ersten Jahre habe ich kaum noch Erinnerungen. Was mir wirklich im Gedächtnis erhalten geblieben ist, sind die Bertha-Hühner meiner Mutter. Sie hatte etwa zweihundert, glaube ich; ich kann mich auch irren, aber es war in jedem Fall sehr viel Federvieh, das sie in kleinen Verschlägen und Batterien hielt (in den Fünfzigerjahren nichts Ungewöhnliches). Meine Mutter hielt die Hühner wegen der Eier, die sie an Bauern oder Geschäfte in der Umgebung verkaufte. Der Bäcker zum Beispiel war ein Großkunde, obwohl »Kunde« vielleicht nicht das richtige Wort ist. Meine Mutter sah es als Hobby an. Wir haben auch ständig Eiergerichte gegessen. Manchmal haben meine Schwestern und ich meiner Mutter geholfen, aber mein Vater hat man bei den Ställen vergebens gesucht, der hatte mit all dem nichts am Hut.

Mein Vater arbeitete in Brüssel bei AEG und war für die Buchhaltung verantwortlich. Jeden Tag pendelte er eine Stunde mit dem Zug von Moerbeke in die Hauptstadt.

Laut meinen Schwestern war ich ein Einzelgänger, ein introvertierter Junge, der hauptsächlich allein spielte; am liebsten draußen auf dem Kopfsteinpflaster, auf den Aschepfaden oder bei den Wassergräben. Das war bei uns kein Problem, es herrschte kaum Verkehr. Die Autos, die sich hierhin verirrten, mussten zuerst die Pirrebrug über die Eisenbahnschienen überqueren. Auch habe ich oft auf den Gleisen gespielt. Obwohl die Züge damals noch nicht so schnell fuhren, war es sehr gefährlich. Diese Gefahr erkannte ich damals nicht, und ein ums andere Mal habe ich große Felsbrocken auf die Gleise gelegt.

Wenn mein Vater abends von der Arbeit nach Hause kam, stand das Abendessen bereits fertig auf dem Tisch. Es gab Huhn, Kaninchen, Schweinefleisch, Eier. Das war die Aufgabe meiner Mutter, und sie machte alles selbst: schlachten, rupfen, kochen und braten. Nach dem Abendessen spielten Papa und ich oft Fußball. Er war ein großartiger Fußballspieler, zumindest konnte er mehr als mithalten auf jenem Niveau, das die örtliche Auswahlmannschaft hatte. Sein Spitzname lautete ›Stuka‹, weil er so beinhart verteidigt hat. Er war sehr sportlich, spielte Fußball, war Mitglied des Billardclubs und betrieb auch etwas Radsport. Solange ich mich erinnern kann, war er zusammen mit seinem Bruder Frans im Radsportverein Sportkomiteit Viane aktiv. Innerhalb der Familie war der Sport nicht wegzudenken, und als Jugendlicher wird man automatisch von diesem Sog erfasst. Man interessiert sich schon allein deshalb dafür, weil man die Leidenschaft der Familienmitglieder teilen möchte. Etwas zu erleben, etwas zu feiern ist schließlich viel schöner mit anderen zusammen.«

Der Gründer der Sportkomiteit Viane war Paul Borremans, geboren in Zandbergen in Ostflandern, etwa zehn Kilometer von Moerbeke entfernt. Wie viele in der Gegend wollte auch Paul ein echter »Flandrien« sein, also ein Radrennfahrer mit besonderem Kampfgeist, der man nur werden kann, wenn man aus dem richtigen Holz geschnitzt ist, besser aber noch hart wie Kopfsteinpflaster. Paul war so jemand. Er brachte Talent mit, hatte aber vor allem Durchsetzungsvermögen. Im Gegensatz zu vielen anderen gelang ihm der Sprung zu den Radprofis. Zuvor allerdings fuhr Paul zunächst in der Kategorie »Unabhängige«. Sein erstes Rennen gewann er im niederländischen Mechelen, zwei Wochen vor Rudys Geburt.

Die »Unabhängigen« bildeten in Belgien eine (nicht obligatorische) Kategorie zwischen den Amateuren und den Profis. Aber man durfte auch an fremden Futtertrögen naschen, denn wenn kein spezielles Rennen für Unabhängige angesetzt war, war die Teilnahme an einem Profi-Rennen gestattet. Für einzelne Amateure wie Eddy Merckx machte man eine Ausnahme, er übersprang diese Riege. Die Kategorie starb einen langsamen Tod, da jedes Jahr die gleichen Radrennfahrer aus demselben Jahrgang dort mitfuhren. In der Regel aber trat der Unabhängige ein Jahr lang an, um die Gunst einer Profi-Mannschaft zu gewinnen. In den Niederlanden waren die Unabhängigen nur bei Rennen startberechtigt, an denen sowohl Amateure und Unabhängige als auch die Profis teilnehmen durften. Es hat immer nur einen wirklichen Wettbewerb gegeben, der allein Unabhängigen offenstand, nämlich in Oogezand-Sappemeer. Das Peloton bestand hauptsächlich aus hochklassigen Amateuren, die den Übergang zu den »echten« Profis etwas hinausschieben wollten (und weil es einfach nicht viele Rennen in der Nähe gab). Auch eine Reihe von Glücksrittern, die nicht bei den Amateuren unterkamen, besorgten sich eine Lizenz als Unabhängiger, um mit den »großen Jungs« mitfahren zu können.

Ende 1954 wagte Paul, ein echter Sprinter, den Schritt und heuerte als Profi für Plume Sport-Simplex an. Daneben fuhr er auch für die italienische Equipe Coppi und für Libertas in Belgien. Im Dienst der italienischen Mannschaft errang er 1958 seinen größten Erfolg: Er gewann den Grote Prijs Briek Schotte. In jenem Jahr war er zusammen mit Hugo Koblet, dem Sieger des Giro d’Italia und der Tour de France, im Team. Ebenfalls in jenem Jahr gab er seinen Rücktritt bekannt.

»Nachdem ›Pol‹, so sein Spitzname in Ostflandern, mit Radsport aufgehört hatte, widmete er sich dem Radsportkomitee und den Rennen, die er von nun an organisierte. Zudem kümmerte er sich um sein Café und seinen Fahrradladen. Als ich noch sehr jung war, bin ich mit meinem Vater öfter mal dort hingegangen, und nach einiger Zeit war ich dort nicht mehr wegzubekommen. Ich spreche über den Fahrradladen, natürlich, und nicht über das Café. All die schönen Sachen, die Teile, die glänzenden Fahrräder, all die Fahrer, die vorbeikamen, um etwas zu montieren, einstellen und reparieren zu lassen oder einfach nur über den Verlauf des Wochenendes zu plaudern –...