Geschichte und Region/Storia e regione 28/2 (2019) - Migration - Region - Integration/Migrazione - regione - integrazione

Geschichte und Region/Storia e regione 28/2 (2019) - Migration - Region - Integration/Migrazione - regione - integrazione

von: Massimiliano Livi

Studienverlag, 2020

ISBN: 9783706560719 , 204 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 23,99 EUR

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Geschichte und Region/Storia e regione 28/2 (2019) - Migration - Region - Integration/Migrazione - regione - integrazione


 

Editorial


Die Themen Migration und Integration haben in den letzten fünf Jahren zweifelsohne überall in Europa sowohl die Medien als auch die politische Agenda regelrecht dominiert. Dies galt vor allem in Bezug auf die Frage der Aufnahme von Flüchtlingen sowie der Integration von neuen und alten Migranten. Für ein Land wie Deutschland waren die knapp eine Million Asylanträge seit 2015 sicherlich ein klarer Beweis für die größte Migrationsbewegung in seiner Geschichte.1 Obwohl Analysten und Migrationsforscher-Innen bereits lange darauf hingewiesen hatten, dass in Zeiten von politischen Unruhen und Kriegszuständen die Fluchtmigration in Richtung konjunkturstärkeren und vor allem sicheren Regionen vorhersehbar sei, überraschten die Flüchtlingsströme aus den Krisengebieten des Nahen Ostens nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in weiteren europäischen Ländern – darunter sicherlich auch Italien – Politik und Zivilgesellschaft. Trotz einer teilweise ausgeprägten Willkommenskultur stellten sie oft eine Herausforderung – wenn nicht sogar eine Überforderung – für das ganze europäische System dar. Die unterschiedlichen, teilweise heftigen Reaktionen in den jeweiligen nationalen Kontexten sind nicht zuletzt auch auf eine nicht ausreichend differenzierte Darlegung solcher Phänomene seitens der Politik und der Medien zurückzuführen. Meist wurden und werden Phänomene und Begriffe wie Migration (darunter auch Flucht) und Integration weiterhin als unilineare und uniforme Prozesse in vermeintlich homogenen Gesellschaften und nicht als ganzheitliche, globale und eben allgegenwärtige Phänomene in der Geschichte der Menschheit beschrieben.

Trotz einer regen inter- und transdisziplinären Forschung in Soziologie, Anthropologie, Geographie sowie Demographie und den Wirtschaftswissenschaften beharren und behalten klassische Modelle und Konzepte bis heute in der öffentlichen Debatte eine starke interpretative Kraft, da sie ihren Fokus vor allem auf die wirtschaftlichen Implikationen der Migrationsphänomene setzten. Tatsächlich beobachtet man, wie der Hauptbezug für Medien und Politik also immer noch jene inzwischen klassischen statischen sozialwissenschaftlichen Interpretationsmodelle der Migrationsphänomene, wie zum Beispiel das „Push-Pull-Paradigma“, bleiben, wonach die Entscheidung auszuwandern vermeintlich aus einem langfristigen, rein wirtschaftlichen Kalkül hervorgehe.2 Ihre Anwendung sowie ihre kontinuierliche Vereinfachung im öffentlich-medialen Diskurs ist nicht immer funktional, wenn es darum geht, die Vielschichtigkeit der beschriebenen Prozesse wiederzugeben. Dies zeigt, dass noch ein langer Weg zurückgelegt werden muss, ehe außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses alte Deutungsmuster und Paradigmen aufgebrochen werden können.3 In diesem Sinne haben die Geschichtswissenschaften eine wichtige Transfer- und Orientierungsrolle für Gesellschaft und Politik: Eine ihrer Aufgaben ist es gewiss, Impulse der Gegenwart zum Ausgangspunkt zeithistorischer Analysen zu machen, um wiederum der aktuellen, mit der Migration verbundenen Problemlage eine historische Tiefenschärfe zu geben. Gerade durch die historisch begründete Feststellung, dass Migration eine Konstante der Geschichte ist und dass Bewegung unterschiedliche Formen und Dynamiken in der Geschichte annimmt, kann den teilweise erhitzten politischen Debatten zu diesen Themen eine solide Orientierung entgegengesetzt werden.4

In der entstehenden Migrationsforschung setzte bereits in den 1960er Jahren ein vielfältiges und differenziertes Bild der Migrationsphänomene an, die nicht nur wirtschaftliche Faktoren, sondern zunehmend auch intersektionale Motivationserklärungen miteinbezieht. Neben der Darstellung einer engen Verbindung zwischen Migration und Arbeitsmarkt, welche noch in den 1980er und 1990er Jahren immer wieder im Sinne einer „Push-Pull-Beziehung“ zwischen der industrialisierten Welt und den unterentwickelten Wirtschaften bzw. zwischen armen und reichen Ländern herangezogen wurde,5 etablierte sich in den 1980er Jahren auch eine neue Generation von Sozialhistorikern wie Charles Tilly, William McNeil, Nicholas Canny, Leslie Page Moch und Dirk Hoerder, die mit ihren Studien die allgegenwärtigen Vorstellung von Migration als unilinearen Prozess bzw. als Symptom der Krise zu überwinden versuchten und diese als einen integraler Bestandteil der europäischen Geschichte betrachteten.6 Diese neue Richtung führte zu einer methodologischen Erneuerung der historischen Migrationsforschung. Allmählich wurden nicht mehr nur statistische Daten und Quellenbeständen aus politischen und sozialen Institutionen, sondern auch Ego-Dokumente wie Briefe, Tagebücher und Lebensläufe, Zeitungsanzeigen sowie eine Vielfalt an visuellen Materialien wie Gemälde, Zeichnungen, Fotos, Filme immer häufiger einbezogen. Dadurch hat sich eine Fülle an analytischen Möglichkeiten und neuen hermeneutischen Perspektiven eröffnet, die unter anderem auch eine Dekonstruktion des starren neoklassischen unilinearen Bilds der Migrationsphänomene in einen dreigegliederten Migrationsprozess (Auswanderung, Reise, Niederlassung) bewirkten. Während sich dadurch das Spektrum dessen erweiterte, was mit Migration gemeint ist – langfristige, mittelfristige, kurzfristige Migrationen, saisonale oder periodische Migrationen, zirkuläre Migrationen usw. –, kommen seitdem auch stetig neue Auswanderungskategorien hinzu: Arbeitswanderung, Bildungs- und Ausbildungswanderung, Pflege- und Hausarbeiterinnenwanderung, Entsendung, Gesellenwanderung, Gewaltmigration, Heirats- und Liebeswanderung, Lebensstilmigration, Nomadismus, Siedlungswanderung, Sklaven- und Menschenhandel, Wanderarbeit, Wanderhandel.7 Zugleich setzte sich etwa mit der methodologischen Implementierung der Oral History, d. h. durch die Möglichkeit, Motive, Ziele, Handlungswissen, Handlungsstrategien, Selbstkonstruktionen und Identitätsverortungen der Migranten zu untersuchen, auch eine weitere analytische Ausdifferenzierung des migrantischen Identitätsspektrums durch. Dadurch rücken auch immer mehr kleinere räumliche Bezüge, einzelne Migrantengruppen als handelnde Subjekte sowie ihre Wirkung und Auswirkung auf die Ankunftsgesellschaften in den Fokus der Migrationsforschung. Dafür plädieren bereits seit den 1970er Jahren historische Teildisziplinen wie die Urban History, die Familiengeschichte sowie die Arbeitsgeschichte für eine neue qualitative Analyse, in der einzelne Migrantengruppen als handelnde Subjekte sowie ihre Beziehungen zu den unterschiedlichen migrantischen Netzwerken der Ankunftsgesellschaft in den Fokus genommen werden müssen.

Ähnlich wie für das Konzept der „Migration“ gingen in den letzten zwei Jahrzehnten aus dieser Ausdifferenzierung auch eine Reihe an neuen Ansätzen und Vorstellungen von „Integration“ als langfristiger und nicht gradliniger Prozess hervor, die u. a. die kulturelle, soziale, identitätsbezogene und strukturelle Dimension umfassen.8 Diese bieten eine systematische Aufschlüsselung der verschiedenen Bereiche sowie der unterschiedlichen Teilprozesse, in denen bzw. wodurch sich unterschiedliche Kategorien von Migranten mit den anderen Teilen der Gesellschaft verbinden und somit soziale Akteure ihrer eigenen Integration werden.9 Die jüngste sozialwissenschaftliche Literatur beschäftigt sich intensiv mit der Entstehung von „migrantischen Unternehmen“10 und mit der Selbständigkeit von Zugewanderten auf dem europäischen Arbeitsmarkt.11 Diese Studien zeigen eine Reihe an positiven Auswirkungen der Migrantenökonomie und der kulturellen Vielfalt in der Arbeitswelt sowohl auf die kommunalen als auch auf die staatlichen Kassen auf. Integration ist also auf einer Seite sicherlich das Resultat von gezielten Maßnahmen der Integrationspolitik durch spezifische Institutionen. Sie ist aber durchaus auch das Resultat der Verteilung und Wahrnehmung von Chancen sowie der Schaffung von Voraussetzungen, welche noch in der zweiten und dritten Generation teilweise entscheidend die Konstruktion eines Zugehörigkeitsgefühls und die Selbstidentifizierung mit der Aufnahmegesellschaft beeinflussen (d. h. die Ebene der identitätsbezogenen Integration).12

In seinem Werk Europa in Bewegung weist Klaus Bade beispielsweise darauf hin, dass Migrationsbewegungen von staatlichen Institutionen noch nie dermaßen kontrolliert, reguliert, beeinflusst oder verhindert wurden wie im Europa des 20. Jahrhunderts. Nicht nur Menschen über Grenzen, sondern auch Grenzen über Menschen haben sich in dieser Zeit hinwegbewegt.13 Dabei hat sich auch mehrfach gezeigt, dass die Migrationspolitik der Regierungen meistens dort an ihre eigene Grenze zu stoßen scheint, wo Migration und vor allem Integration ausgehandelt werden müssen: auf lokaler Ebene.

Während also die Akquisition von Rechten in den zentralen Strukturen der Aufnahmegesellschaft sowie ihre Ausübung in Bezug auf Arbeit, Bildung, Teilhabe usw. (Stichwort „strukturelle Integration“)14 sicherlich auf einer eher allgemeinen, oft nationalen politischen Ebene zu verorten sind, betreffen die Prozesse der kulturellen sowie auch der sozialen Integration der Migranten und ihrer Nachfahren öfter die subjektive und private (Entscheidungs)Ebene der lokalen gesellschaftlichen Näheverhältnisse. Zudem zeigen empirische...