Ich traf Hitler - Die Interviews von Karl Höffkes mit Zeitzeugen

Ich traf Hitler - Die Interviews von Karl Höffkes mit Zeitzeugen

von: Wieland Giebel

Berlin Story Verlag, 2020

ISBN: 9783957237118 , 570 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 29,99 EUR

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Ich traf Hitler - Die Interviews von Karl Höffkes mit Zeitzeugen


 

VORWORT


von Karl Höffkes


Februar 1992. Die Verabschiedung war unterkühlt. Stumm reichte mir der klein gewachsene Mann seine linke Hand. Eine ganze Nacht lang hatte ich mit ihm zusammengesessen, um ihn dazu zu bewegen, mir seine Lebenserinnerungen anzuvertrauen. Im Morgengrauen fuhr ich zurück und ließ die Nacht Revue passieren, als das Telefon klingelte. „Kommen Sie zurück. Wir sprechen über das Interview.“ Artur Axmann, Hitlers letzter Reichsjugendführer und einer der wichtigsten Zeitzeugen aus der Führungsriege des Dritten Reiches, war bereit, sein Schweigen zu brechen.

Die Sachlichkeit, mit der Artur Axmann mir aus seiner persönlichen Perspektive die Ereignisse von Hitlers Machtergreifung bis zu dessen Tod in Berlin schilderte, weckte mein Interesse, weitere Zeitzeugen zu befragen, die in die Politik des NS-Regimes verstrickt waren. Angesichts des fortgeschrittenen Alters vieler war das eine Arbeit gegen die Zeit. Das Interview mit Artur Axmann öffnete manche Türe, die bis dahin verschlossen war, und Menschen, die bisher geschwiegen hatten, waren bereit zu reden. In einigen Fällen waren mehrere Vorgespräche notwendig, um das notwendige Vertrauen aufzubauen. Einige der Zeitzeugen waren nur dieses eine Mal bereit, über ihre Begeisterung für Hitler, ihre Verstrickung in das System und ihre Begegnungen mit Hitler zu sprechen. Fast alle Gespräche habe ich mit der Kamera festhalten dürfen; nur wenige sind, aus unterschiedlichsten Gründen, lediglich als Tondokumente vorhanden.

Die Interviews führten mich durch Europa, in verschiedene Staaten der ehemaligen Sowjetunion, nach Nordafrika, Südamerika und in den Nahen Osten. Das Ergebnis: mehr als tausend Interviews mit unterschiedlichsten Zeitzeugen: Gauleiter, Generale und Admirale, Sekretärinnen und Adjutanten, Soldaten aller Waffengattungen, Generalstabsoffiziere, Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, Widerständler, Opfer des NS-Systems, Kulturschaffende, Fahrer, Bedienstete, Zivilisten und Familienangehörige führender Nationalsozialisten – ein breiter Querschnitt durch alle Schichten.

Sie alle schilderten ihre Erlebnisse vor und während des Zweiten Weltkrieges. Freiwillige aus über zwanzig Nationen sprachen über ihre Beweggründe, auf deutscher Seite in den Krieg einzutreten, unter ihnen Engländer, Inder, Ukrainer, Russen und bosnische Moslems. Flüchtlinge aus den Ostgebieten, Überlebende des Bombenkrieges und der polnischen und tschechischen Todeslager, Frauen, die vergewaltigt und verschleppt wurden, Augenzeugen entsetzlicher Kriegsverbrechen, Opfer der Konzentrationslager: vielfältige Erinnerungen – aufgezeichnet und bewahrt für kommende Generationen.

Im Unterschied zur klassischen Interviewtechnik, bei der der Fragende den Rahmen vorgibt, sollten und konnten meine Gesprächspartner frei und ohne Zeitdruck schildern, was ihnen wichtig erschien. Anstelle eines geleiteten Gesprächs vertrauten sie mir nach eigenem Ermessen ihre Erinnerungen an. Einige haben später ihre Erlebnisse in Buchform veröffentlicht. Darüber, ob die vorangegangenen Gespräche dazu den Anstoß gegeben haben, kann nur spekuliert werden.

Der Ansatz, mit Hilfe dieser Berichte historische Abläufe verständlicher zu machen, wurde bisweilen als „Verständnis haben“, vereinzelt sogar als Zeichen der Sympathie für das NS-System kritisiert. Genau das Gegenteil ist der Fall: Jede Erinnerung an das Leben im „Dritten Reich“ und die Schrecken des Krieges ist ein Appell gegen die Diktatur und für den Erhalt des Friedens.

Derartige Vorwürfe sind inzwischen weitgehend verstummt; „Oral history“, „erzählte Geschichte“, ist heute eine anerkannte Forschungsrichtung der Geschichtswissenschaft. Die Shoah Foundation von Steven Spielberg, die gesprochenen Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden in der Gedenkstätte Yad Vashem (in der auch Teile der von mir geführten Gespräche archiviert sind) und andere ähnliche Archive zeigen, dass Erfahrungsberichte von Augenzeugen für die Erforschung historischer Ereignisse von Bedeutung sind.

In der bundesrepublikanischen Gesellschaft fanden Gespräche mit der Generation, die den Nationalsozialismus erlebt hat, lange Zeit, wenn überhaupt, nur im privaten Bereich statt. Die einen schwiegen und verschwiegen; die anderen hatten kein Interesse oder wollten den „Ewiggestrigen“ kein Forum bieten. Viel zu spät begann die Geschichtswissenschaft mit der systematischen Befragung von Zeitzeugen – viele wichtige Augenzeugen waren bereits verstorben.

Beachtung verdient im Zusammenhang mit „Oral history“ ein Aspekt, der die Wissenschaftlichkeit der Methode zur Diskussion stellt. Der Vorwurf lautet: Individuelle Aussagen können nicht als authentische Quelle zur Aufarbeitung der Geschichte herangezogen werden, weil man nicht verhindern kann, dass ein Zeitzeuge im Nachhinein bewusst oder unbewusst beschönigt, unterschlägt, bagatellisiert oder dramatisiert, tatsächlich Gewesenes mit später Gehörtem und Gelesenem vermischt oder zur Selbstrechtfertigung Zusammenhänge in einem ihm genehmen Licht erscheinen lässt.

Die damit implizierte Unterscheidung von seriösen, weil gedruckten Quellen und unseriösen, weil subjektiven Zeitzeugenaussagen greift allerdings zu kurz. Selbstverständlich sind Zeitzeugenaussagen kritisch zu hinterfragen und im Kontext anderer Quellen zu prüfen. Das gilt aber in gleicher Weise auch für gedruckte Quellen: Bekanntlich ist Papier geduldig. Wie viele Tagebücher wurden im Nachhinein umgeschrieben? Wie viele schriftliche Erinnerungen sind geschönt? Wie viele „Dokumente“ sind – gerade in Zeiten kriegerischer Auseinandersetzungen – den Fälscherwerkstätten der Geheimdienste und der Propaganda entsprungen, um den Gegner zu täuschen? Hinter welchen Vertragswerken verbergen sich geheime Zusatzvereinbarungen, die, unzugänglich für die Forschung, noch immer in Archiven zurückgehalten werden? Wie viele „Geständnisse“ sind das Ergebnis langer Haftzeiten und körperlicher Drangsalierung?

Inzwischen ist anerkannt, dass Augenzeugen-Erinnerungen – bei Berücksichtigung aller Probleme – auf einer bestimmten Ebene anderen Quellen etwas voraushaben: Sie erzählen eine „Geschichte von unten“, weil sie Menschen, die ihre Erinnerungen niemals schriftlich festgehalten hätten, die Möglichkeit bieten, ihre Sicht auf das Gewesene zu bewahren. Sie halten auf einer emotionalen Ebene die Atmosphäre, die Befindlichkeiten und Stimmungen einer Zeit fest und können damit zur Klärung von Fragen beitragen, die Fakten und Daten nicht immer hinreichend beantworten.

„Oral History“ bietet somit einerseits die Chance, Gewesenes besser nachzuvollziehen; andererseits stellt sie an den Historiker die Forderung nach gründlicher quellenkritischer Arbeit. Seine Aufgabe ist es, Erinnerungen kritisch zu hinterfragen und Kriterien zu entwickeln, die eine sachliche Überprüfung der Aussagen möglich machen. Im Sinne des preußischen Historikers Ranke* muss er dabei auch an sich selbst strengste Maßstäbe anlegen, denn auch die Interpretation und Bewertung des Gesagten unterliegt der Gefahr einer subjektiven Gewichtung, da Geschichtsschreibung – und sei sie noch so sehr um Objektivität bemüht – sowohl in der Auswahl von Dokumenten als auch in ihrer Interpretation nie frei ist von subjektiver Betrachtungsweise.

Was macht den Menschen zum Zeitzeugen? Welche Fähigkeiten sollte er besitzen, um „von der Zeit zu zeugen“? Im Idealfall verfügte er schon zu den Zeiten, über die er berichtet, neben der Fähigkeit zur Beobachtung über eine gewisse Distanz zum Geschehen. Eine Qualität, die allerdings nur in seltenen Fällen zutrifft. In aller Regel sind Menschen in die Abläufe des Alltags eingebunden, betraut mit Aufgaben und bestimmt von täglichen Sorgen und Problemen. Wer beobachtet, wenn um ihn herum Bomben einschlagen? Wer hält Distanz, wenn er um sein Leben fürchten muss?

Hinsichtlich der in diesem Buch zusammengestellten Erinnerungen von Zeitzeugen sind die Probleme noch gravierender. Abstand zu halten, Objektivität zu bewahren scheint umso schwieriger, je näher die Befragten dem Zentrum der Macht, der Person Hitlers kamen. Wie weit unterlag der Einzelne der immer wieder beschriebenen Suggestivkraft und dem Einfluss des Mannes, in dessen Händen alle Gewalt zusammenlief? Gewährte Hitler den Menschen in seiner nächsten Umgebung überhaupt Einsichten in sein Wesen oder war er ein Puppenspieler, der alle wie Marionetten am Faden führte?

Die Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen, sind so verschieden, wie sie nur sein können; sie stammen aus unterschiedlichen Milieus, gesellschaftlichen Kreisen und Regionen; sie besuchten die unterschiedlichsten Schulen, gehörten verschiedenen Konfessionen an und unterscheiden sich voneinander in Ausbildung, Alter und Beruf. lhre einzige Gemeinsamkeit ist die Nähe zu Adolf Hitler, jenem Mann, der wie kein Zweiter die Geschichte des letzten Jahrhunderts...