Amazonas - Gefahr für die grüne Lunge der Welt

Amazonas - Gefahr für die grüne Lunge der Welt

von: Martin Specht

Ch. Links Verlag, 2020

ISBN: 9783862844746 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Amazonas - Gefahr für die grüne Lunge der Welt


 

WIE FUNKTIONIERT DAS ÖKOSYSTEM REGENWALD?


Bäume und Klima


Ich wende mich dem Land zu und nehme Abschied von Fernando, der mich mit seinem Boot ins brasilianische São Paulo de Olivença gefahren hat. Über zwei breite, im Wasser schwimmende Baumstämme balanciere ich – samt Rucksack – zum Ufer. Als ich mich umdrehe, um ihm zum Abschied zuzuwinken, hat die Strömung des Solimões ihn schon fortgetrieben. Ich sehe, wie er über die Lenkstange des Motors gebeugt im Heck des Bootes sitzt und starr nach vorne schaut. So wie die Gruppe von Menschen, die uns kurz zuvor im Kanu entgegengekommen ist. Die Uferböschung ist schlammig, und am Himmel türmen sich Wolken in die Höhe. Beides hängt miteinander zusammen. Die Wolkenformationen sind gigantisch und ragen wie große Pilze in den Himmel. Die Formen wechseln schnell, schon ist aus dem Pilz eine riesige Säule geworden. Alles ist in Bewegung, strömt einem Ziel entgegen. Zusammen mit der schnell sinkenden Sonne lassen die Wolken abends im Amazonasgebiet die spektakulärsten Farbenspiele entstehen. Wenn die Sonne ihren tiefsten Punkt erreicht, ist das Licht manchmal dunkel violett, und über allem ziehen schwarze Wolken am Himmel hinweg. Die Wassermengen darin sind so enorm, dass die Indigenen von »fliegenden Flüssen« sprechen. Das Wasser bewegt sich am Boden in Flussläufen und am Himmel in gewaltigen Wolken über die Erde. Das Amazonasgebiet ist ein Land des Wassers.

Bis heute gehen die Meinungen darüber auseinander, wo genau der Amazonas entspringt, und damit auch darüber, wie lang er tatsächlich ist. Unbestritten ist, dass der Fluss, der erstmals in Peru als Río Amazonas bezeichnet wird, ein Zusammenfluss mehrerer Flüsse ist, die sämtlich in den peruanischen Anden entspringen. Diese Gebirgsformation mit mehr als 6500 Meter hohen Gipfeln durchzieht den gesamten südamerikanischen Kontinent in nordsüdlicher Richtung. Die beiden wichtigsten Quellflüsse des Amazonas sind der Marañón – mit mehr als 1600 Kilometern Länge – und der etwa 2600 Kilometer lange, weiter südlich gelegene Ucayali. Etwa 100 Kilometer von der peruanischen Stadt Iquitos entfernt, vereinigen sich der Marañón und der Ucayali, von dort an nennt sich der Strom Río Amazonas. Diesen Namen behält er auf seinem Weg in Richtung Osten – auf dem er Peru und Kolumbien passiert – bis zur brasilianischen Grenze. Nun heißt er Rio Solimões und wird erst wieder nach dem Zusammenfluss mit dem Rio Negro in der Nähe der Großstadt Manaus zum Amazonas, bis er schließlich in den Atlantik mündet. Der Hauptstrom wird aus zahlreichen Zuflüssen gespeist, die die europäischen Flüsse an Länge und Wasserstand meist übertreffen. Die größten Nebenflüsse des Amazonas sind auch während der Trockenzeit schiffbar und stellen wichtige – und neben dem Flugzeug meist die einzigen – Verkehrswege dar. Zu diesen Nebenflüssen gehören der Río Putumayo (circa 2060 Kilometer Länge), der Rio Madeira-Guaporé (etwa 3240 Kilometer), der Tocantins (circa 2640 Kilometer), der Rio Tapajós (etwa 2000 Kilometer), der Rio Xingu (circa 1980 Kilometer), und der Rio Negro (etwa 1550 Kilometer). Zum Vergleich: Der Rhein ist von der Quelle bis zur Mündung etwa 1230 Kilometer lang und führt deutlich weniger Wasser als die meisten der hier erwähnten Nebenflüsse des Amazonas. Der Amazonas legt eine Strecke von mehr als 6900 Kilometern zurück – mehr als die Entfernung Berlin – New York –, bis er an der brasilianischen Küste in den Atlantik mündet.

Betrachtet man Landkarten oder Satellitenbilder der Amazonasregion, so erinnern die Verzweigungen der Nebenflüsse, die sich schließlich im Hauptstrom vereinen, an einen liegenden Baum, dessen mächtigen Stamm der Amazonas darstellt. Obwohl die indigenen Gruppen der Amazonasregion über keinerlei Kartographie verfügten, findet sich das Bild des liegenden Baumes tatsächlich in einigen Schöpfungsmythen wieder.

Einer der schönsten wird von einigen Gruppen der Tikuna erzählt. Darin suchen Yoi und seine Schwester Ipi, die Zwillinge, die aus den Knien des großen Vaters Nguxtapax geboren worden sind, im Dschungel nach einem Ort, an dem sie das Volk der Tikuna erschaffen können. Sie kommen an eine Stelle, an der ein hoher Lupunabaum steht. So nennen die Tikuna die im Amazonasregenwald verbreiteten Kapokbäume, die uralt und bis zu 70 Meter groß werden können. Die gewaltigen brettartigen Wurzeln ragen über der Erde aus dem Stamm heraus. Als Yoi und Ipi den Baum erreichen, wollen die dort lebenden Tiere gerade die Gegend verlassen, weil sein Schatten alles Darunterliegende ins Dunkel hüllt. Yoi und Ipi rufen die wenigen verbliebenen Tiere zusammen und bitten sie, mit ihren Klauen und Zähnen den Baum zu fällen. Das Eichhörnchen, der Specht und einige andere schaffen es tatsächlich, den Stamm des Baumes zu durchtrennen, doch er fällt nicht um. Das Eichhörnchen wird nach oben geschickt, um nachzusehen, was los ist. Es entdeckt ein Faultier, das in der Baumkrone sitzt und sich mit einem Arm an den Wolken festhält. Yoi befiehlt dem Eichhörnchen, Pfeffer in die Augen des Faultiers zu streuen, damit es die Wolken loslässt, doch ohne Erfolg. Das Eichhörnchen wird erneut in die Baumkrone geschickt, diesmal mit einer Handvoll stechender Ameisen. Oben angekommen, wirft es die Ameisen nach dem Faultier, das seinen Griff nun endlich lockert. Wie erwartet stürzt der Baum zu Boden. Doch sobald seine Äste die Erde berühren, beginnt es zu blitzen und zu donnern. Gleichzeitig schießt Wasser von irgendwoher herbei. Das Wasser öffnet ein riesiges Loch in der Erde, aus dem das Flussbett wird, und so entsteht der Río Amazonas. Aus den Zweigen des Baumes werden kleinere und größere Zuflüsse. Die Blätter verwandeln sich in Fische, die sich auf wundersame Art vermehren. Yoi und Ipi nehmen das Herz des Baumes und pflanzen es in die Mitte des neuen Dorfes.

Auch wenn man die zahlreichen Mythen der Indigenen über den Ursprung der Welt außer Acht lässt, so sind es doch Sonne und Wasser, die dem Leben im Amazonasgebiet seine Form geben. Das Amazonasbecken – gemeint ist das im Westen vom Rand der Anden her abfallende und sich im Osten bis an den Atlantik erstreckende relativ flache Tiefland – ist auf etwa fünf bis sechs Millionen Quadratkilometern von Regenwald bedeckt, hinzu kommen noch einmal circa eine Million Quadratkilometer Savannenvegetation. Beides zusammen bezeichnet man als Amazonasbiom, das damit eine flächenmäßige Ausdehnung etwa in der Größe der USA hat. Im Mündungsgebiet verzweigt sich der Amazonas in ein circa 250 Kilometer breites Flussdelta, aus dem pro Sekunde (!) zwischen 35 000 und – bei Höchststand – 160 000 Liter in den Atlantik fließen.

Doch wie funktioniert der Wasserkreislauf im Einzelnen, und wie hängt er mit dem globalen Klima zusammen? Das Amazonasgebiet liegt nahe am Äquator, darum sind Sonneneinstrahlung und die Wärmeentwicklung das ganze Jahr über enorm. Wasser, das über dem Atlantik verdunstet, wird als Wolke vom Wind landeinwärts getragen, bis es auf die Barriere der Anden trifft, dort wiederum als Regen vom Himmel fällt und im Amazonas-Flusssystem zum Atlantik zurückkehrt. So hat man den Wasserkreislauf in der Amazonasregion zumindest lange Zeit erklärt. Doch in Wirklichkeit ist er wesentlich komplexer, und es wird schnell offensichtlich, wie wichtig dieses Geschehen für das globale Klima ist. Der Schlüssel dazu liegt in den Bäumen des Regenwaldes. Im Boden des Amazonasgebietes sind wegen der beschriebenen Wasserzyklen enorme Wasservorräte vorhanden. Durch die beständige starke Sonneneinstrahlung »schwitzen« die Bäume und transportieren mittels ihrer Wurzeln Wasser aus dem Erdreich ins Laub, wo es über die Blätter verdunstet und sich mit dem über Flüssen und Atlantik verdampfenden Wasser zu den »fliegenden Flüssen« vereint.

Da von einer Regenwaldfläche von fünf bis sechs Millionen Quadratkilometern die Rede ist, kann man sich vorstellen, wie es zu den riesigen Wassermengen kommt, die über das Gebiet hinwegziehen. Ein einzelner Baum im Amazonasregenwald kann bis zu 1000 Liter Wasser am Tag verdunsten. Deswegen bedeutet »Trockenzeit« am Amazonas auch nicht, dass es gar nicht regnet: Die Bäume machen sich ihren Regen gewissermaßen selbst, unabhängig vom Wechsel der Jahreszeiten. In der sogenannten Regenzeit ist der Wasserstand der Flüsse höher, und es regnet häufiger. Ohne den ganzjährigen Regen – Teil eines permanenten Wasserkreislaufs – könnte der Regenwald nicht überleben. Die Phasen der Regen- und Trockenzeit dauern jeweils etwa sechs Monate. Die Regenzeit beginnt im November oder Dezember und hält bis April oder Mai an.

Im Amazonasbecken produzieren die Bäume sieben Mal mehr Wasser, als es durch die Verdunstung im Atlantik geschieht. Das hat noch einen anderen Effekt: Durch die Verdunstung entsteht ein Vakuum, das wiederum den Regen ansaugt. Es ist nicht nur der Wind, sondern auch der so entstehende Unterdruck, der große Auswirkungen auf das globale Klima hat....