Bulldozer Bolsonaro - Wie ein Populist Brasilien ruiniert

Bulldozer Bolsonaro - Wie ein Populist Brasilien ruiniert

von: Andreas Nöthen

Ch. Links Verlag, 2020

ISBN: 9783862844821 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Bulldozer Bolsonaro - Wie ein Populist Brasilien ruiniert


 

AUS KLEINEN VERHÄLTNISSEN


Die italienischen Wurzeln


Der 4000-Seelen-Ort Anguillara Veneta im norditalienischen Venetien sah sich im Herbst 2018 einer wahren Invasion von Reportern ausgesetzt. Plötzlich war das Örtchen eine Berühmtheit, die Stadt unweit von Padua schien fast nur noch aus Kamerateams zu bestehen. Denn kurz vor der Stichwahl in Brasilien hatten Journalisten herausgefunden, dass die Vorfahren jenes Kandidaten, der nun wahrscheinlich bald der 38. Präsident in der Geschichte des größten Landes Südamerikas sein würde, hier gelebt hatten. Wer also waren die Bolzonaros, die sich hier auch heute noch mit einem z anstelle des s schreiben? Und was hielten sie von ihrem fernen Verwandten?

Die Reporter fanden viele bereitwillige Interviewpartner mit Verwandtschaftsbeziehungen um mehrere Ecken. Viel zu berichten wussten sie allerdings nicht über den entfernten Großcousin oder Großneffen, außer, dass sie schon einmal von ihm gehört hätten und dass sie das, was von seinen Äußerungen zu ihnen gedrungen war, nicht allzu toll fänden.

In einem Kirchenarchiv fanden Journalisten die Geburtsregister von Vittorio Bolzonaro. Dieser Urgroßvater von Jair Bolsonaro war es, der Ende des 19. Jahrhunderts seine Heimat verließ und sich per Schiff nach Brasilien aufmachte. Er war in zahlreicher Gesellschaft. Zwischen 1876 und 1920 brachen allein aus Italien 1 243 633 Menschen nach Südamerika auf. Die größte Gruppe unter ihnen stammte wie Vittorio Bolzonaro aus Venetien, fast 368 000 waren es.

Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sah die größte Einwanderungswelle in der Geschichte Brasiliens. Von wirtschaftlicher Not oder gar Hunger geplagt, ließen die Migranten die Heimat zurück auf der Suche nach einer sicheren Existenz für sich und ihre Familien. Die Not hatte im Wesentlichen zwei Gründe. In ganz Europa hatte ein großes Bevölkerungswachstum eingesetzt, und selbst die rasant wachsende Industrie konnte die zuströmenden Arbeitskräfte nicht aufnehmen. Nicht nur Italiener suchten daraufhin ihr Glück im fernen Südamerika, sondern auch Deutsche, Franzosen, Schweizer oder Österreicher.

Und sie alle kamen, weil sie gebraucht und gezielt angeworben wurden. Anders als in der alten Welt mangelte es dem riesigen Land noch immer an Menschen. Sollte der Naturraum Brasilien erschlossen, besiedelt und damit gesichert werden, mussten Menschen her, die dazu bereit waren und am besten das passende Know-how mitbrachten. Wichtigstes Anforderungsprofil war, landwirtschaftlich geschult zu sein.

Denn es galt nicht zuletzt, die Arbeitskräfte zu ersetzen, auf deren Leistung der Wohlstand Brasiliens oder zumindest seiner Eliten zu dieser Zeit noch in erheblichem Maße beruhte: die Sklaven. Das britische Empire, das im 19. Jahrhundert eine ähnliche globale Vormachtstellung genoss wie die USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hatte nämlich wirtschaftlichen Druck auf die Länder Lateinamerikas aufgebaut, die Sklaverei endlich zu beenden. Am Ende war Brasilien das letzte Land Amerikas, das am 13. Mai 1888 mit dem von Prinzessin Isabel unterzeichneten »Goldenen Gesetz« (Lei Áurea) die Sklaverei zumindest auf dem Papier abschaffte.

Italiener waren als Einwanderer begehrt. Sie waren weiß und katholisch, was die Assimilation vereinfachte. Wenn sie dann auch noch ihre Familie mitbrachten, waren sie die idealen Kandidaten.

Eigentlich mochten die brasilianischen Behörden die Deutschen ebenfalls. Doch sie bereiteten auch Sorgen. Fanden sie in größerer Zahl auf engem Raum zueinander, schwand bei ihnen der Integrationswille. Sie konservierten Sprache und Traditionen und lebten teilweise in Parallelgesellschaften. Das sah die Obrigkeit als Bedrohung an. In den 1930er-Jahren ging Präsident Getúlio Vargas sogar so weit, Deutschstämmige zwangsassimilieren zu wollen. Er ließ Schulen, in denen auf Deutsch unterrichtet wurde, schließen und verbat Familien komplett, Deutsch zu sprechen.

Der Erfolg war freilich mäßig. Noch heute wird in einigen Orten vor allem in den südlichen Bundesstaaten Rio Grande do Sul und Santa Caterina Deutsch gesprochen (oder Dialekte wie das »Hunsrückische«, das die Nachfahren der Siedler für Deutsch halten). Dazu versucht man, deutsches Brauchtum hochzuhalten: In Pommerode und Joinville bekommt man Schweinshaxe und Schwarzwälder Kirschtorte zu kaufen, in Blumenau fand bis vor wenigen Jahren das größte Oktoberfest außerhalb Deutschlands statt.

Das Decreto 528 von 1890 beschrieb die Grundanforderungen an Einwanderer in Brasilien in Artikel 1 folgendermaßen: Personen, die in ihrem Heimatland nicht Gegenstand von Strafverfolgung gewesen seien und die bereit und fähig seien zu arbeiten, seien völlig frei, das Land zu betreten. Ausnahmeklauseln galten für Menschen aus Afrika und Asien, die nur mit Erlaubnis des Kongresses und nach vorher genau festgelegten Kriterien ins Land gelassen werden dürften. Wer sich nicht an diese Regelung halte, hieß es weiter in Artikel 4, müsse mit Geldstrafen und dem Verlust sämtlicher Privilegien rechnen.19

Der brasilianische Staat beauftragte spezielle Firmen damit, in den Herkunftsländern auswanderungswillige Familien aufzuspüren und vertraglich zur Auswanderung zu verpflichten. Die dort festgeschriebenen Bedingungen waren – aus heutiger Sicht – recht abenteuerlich. Familien mussten unterschreiben, bis zu fünf Jahre lang umsonst auf den Plantagen oder den Fazendas zu arbeiten, bis sie die Kosten für die Überfahrt abgestottert hatten. Der Unterschied zu sklavereiähnlichen Bedingungen war klein.

Die italienischen Einwanderer dieser Jahre zog es auch wegen des deutlich gemäßigteren Klimas vornehmlich in die südlichen Bundesstaaten Rio Grande do Sul, Santa Caterina, Paraná und São Paulo. Gerade São Paulo als Zentrum des brasilianischen Kaffeeanbaus bildete einen besonderen Schwerpunkt. Zwischen 1889 und 1919, in jenem Zeitraum also, der den Höhepunkt italienischer Immigration in Brasilien markierte, sollen sich rund zwei Drittel der italienischen Einwanderer in diesem Bundesstaat niedergelassen haben.

Es gibt unterschiedliche Schätzungen, wie hoch die Zahl italienischstämmiger Brasilianer insgesamt ist. Die Bevölkerungsstatistik ist in dieser Beziehung nicht wirklich aussagekräftig, Herkunft wird vom Zensus normalerweise nicht als Kriterium abgefragt. Die italienische Botschaft in Brasilien veröffentlichte 2013 Erhebungen (oder besser Schätzungen), die von rund 30 Millionen Italobrasilianern ausgehen, also bis zu 15 Prozent der Bevölkerung. Der Soziologe Simon Schwartzmann, Ex-Chef des Statistischen Bundesamtes Brasiliens (IBGE), hat 10,5 Prozent oder 22,75 Millionen Brasilianer italienischer Abstammung errechnet. Egal, welcher Statistik man nun glauben mag – Fakt ist: Italiener waren gleich nach den Portugiesen die wichtigste Gruppe europäischer Einwanderer in Brasilien.

Es gibt einige prominente Brasilianer mit italienischen Wurzeln, die Sängerin Adriana Calcanhotto etwa oder den Formel-1-Rennfahrer Felipe Massa. Der Weltmeister-Trainer der Selecão von 2002, Felipe (Felipão) Scolari, hat ebenfalls italienische Vorfahren. Auch ins höchste Staatsamt schaffte es der eine oder andere Italobrasilianer, allerdings nur unter den Bedingungen der Militärdiktatur oder übergangsweise wie zuletzt Itamar Franco, der 1992 für gut zwei Jahre vom Vizepräsidenten zum Präsidenten aufrückte, nachdem der eigentliche Amtsinhaber Fernando Collor de Mello wegen Korruption abgesetzt worden war. Erst Bolsonaro war der erste Nachfahre italienischer Einwanderer, dem die Brasilianer demokratisch und in direkter Wahl ins Präsidentenamt verhalfen.

Die Jugend: Karg und kleinbürgerlich

Geboren wurde Jair Messias Bolsonaro am 21. März 1955 in Glicério im Bundesstaat São Paulo. Das knapp 5000 Einwohner zählende Örtchen ist nach dem General Francisco Glicério de Cerqueira Leite benannt, der in der Zeit, als Bolsonaros Vorfahren nach Brasilien kamen, Landwirtschaftsminister war. Glicérios Namen trägt in Rio de Janeiro im Stadtteil Laranjeiras auch eine Straße, in der samstags einer der schönsten Wochenmärkte der Stadt abgehalten wird. Ausgerechnet Laranjeiras war übrigens der einzige Stadtteil in ganz Rio, in dem Bolsonaro bei der Wahl 2018 nicht die Mehrheit holen konnte. Dort gewann sein Rivale Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT. Aber das nur nebenbei.

Sechs Kinder – drei Jungen und drei Mädchen – gab es in der Familie von Percy Geraldo Bolsonaro und Olina Bonturi. Jair war der zweitälteste Sohn. Die Bolsonaros galten als sehr katholisch. Seinen ersten Vornamen aber verdankt der heutige Präsident keinem Heiligen, sondern, was im fußballverrückten Brasilien gar nicht so selten ist, einem Fußballspieler: Jair Rosa Pinto, in den 1950er-Jahren Nationalspieler Brasiliens, der für Palmeiras aus São Paulo, den Lieblingsclub des Vaters, auf halblinker Position spielte und am selben Tag Geburtstag hatte wie Jair Bolsonaro. Bolsonaro...