Authentizität - Karriere einer Sehnsucht

Authentizität - Karriere einer Sehnsucht

von: Erik Schilling

Verlag C.H.Beck, 2020

ISBN: 9783406757617 , 155 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Authentizität - Karriere einer Sehnsucht


 

ECHT – EHRLICH – WAHR: AUTHENTIZITÄT ALS SEHNSUCHT DER GEGENWART


Authentizität ist die Sehnsucht unserer Gegenwart: «Was steckt hinter den vielen Gesichtern des Schauspielers Lars Eidinger?», wollte das Bahn-Magazin DB mobil im März 2020 wissen. «Wie authentisch darf die Royal Family sein?», zerbrach sich Der Spiegel anlässlich des Rückzugs von Harry und Meghan aus dem britischen Königshaus den Kopf. «Trotz Corona-Ausbruch: Ischgl bleibt authentisch», versicherte die taz den krisenfesten Skifreunden unter ihren Lesern.

Politik, Gesellschaft und Kunst haben längst auf diese Sehnsucht nach Authentizität reagiert: Angela Merkel gewann eine ganze Bundestagswahl mit dem Satz «Sie kennen mich». Donald Trump nutzt Twitter als «way for me to get the truth out». Hannelore Kraft, ehemalige Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, brachte sogar ihr politisches Programm auf den Slogan: «Ich bin authentisch.»[1]

Unzählige Coachings und Seminare werden zu Authentizität angeboten, sei es für bestimmte Bedürfnisse («Authentisch Frau sein», «Authentizität in der Führungsrolle»), sei es für das Leben insgesamt («Echt ist das neue Schön», «authentisch sein, aber richtig!»).[2] Authentisch zu sein, so wird suggeriert, ist in jedem Lebensbereich eine erstrebenswerte Verhaltensweise, die man mit wenigen Tricks aus sich herauskitzeln kann.

Auch die Werbung holt ihre Zielgruppen bei dem Bedürfnis nach Authentizität ab: «Frau verwöhnt, Kinder belustigt, Rasen gemäht … Jetzt ist meine Haut dran», war auf einem Plakat der «Kampagne für authentische Männer» eines Kosmetikherstellers zu lesen. «Kesselblick und Hochgefühl – fürs Leben gern ein Stuttgarter», so behauptet eine Brauerei, für lokale Authentizität zu stehen. Und: «Es gibt sie noch, die guten Dinge», verspricht ein Einzelhandelsunternehmen.[3]

In der Literatur ist es gegenwärtig Mode, zwischen Autor und Erzähler bzw. Protagonist keinen Unterschied zu machen. Wohlmeinende Leser dürfen daher Karl Ove Knausgård dabei zusehen, wie er einige tausend Seiten lang an seinem Leben leidet. Sie dürfen mit Thomas Melle in die Abgründe einer manisch-depressiven Erkrankung abtauchen. Oder von Édouard Louis alles über dessen Leben als Homosexueller in der französischen Provinz erfahren.

Wo wir also noch nicht so ehrlich, unverstellt, aufrichtig sind wie Angela Merkel, Donald Trump oder Hannelore Kraft, da wollen wir es werden, durch Coaching, Konsum oder Lektüre. Der Weg ist flexibel, der Wunsch aber klar: Wir wollen authentisch sein.

Fünf Thesen zur Authentizität


In diesem Buch entwickle ich fünf Thesen, um Authentizität als Phänomen der Gegenwart kritisch zu analysieren:

(1)

Authentizität spielt aktuell eine so große Rolle, dass sie für die Gegenwart als zentrale Sehnsucht zu beschreiben ist. Ihre Karriere belege ich an Beispielen aus dem kulturellen, politischen und sozialen Bereich.[4]

(2)

Der Authentizitätsboom ist eine Reaktion auf eine zunehmende gesellschaftliche Komplexität, bedingt durch Digitalisierung, Globalisierung und die scheinbare Beliebigkeit der Postmoderne.

(3)

‹Authentizität› ist eng verwandt mit Begriffen wie ‹Echtheit›, ‹Eindeutigkeit› und ‹Wahrheit›. Die Rede von Authentizität besitzt daher metaphysische Anklänge.

(4)

Um diese metaphysischen Anklänge zu vermeiden, sollte der Begriff ‹authentisch› nicht essentialistisch (im Sinne von: auf einen ‹wahren Kern› verweisend) verstanden werden. Ein essentialistisches Konzept von Authentizität führt zu Einschränkungen von Pluralität und Ambiguität.

(5)

Eine sinnvolle Definition von ‹Authentizität› bezeichnet daher ausschließlich die Übereinstimmung einer Beobachtung mit einer Erwartung des Beobachters. Wer in diesem Sinne ‹authentisch› sagt, sagt nichts über die beobachtete Person oder Sache aus, nur über seine Erwartung und seine Beobachtung. Diese terminologisch präzisere Definition von ‹Authentizität› vermeidet, dass mit dem Begriff implizite Wertungen und Verabsolutierungen einhergehen.

Im Kern ist dieses Buch somit ein Plädoyer für Freiheit und Toleranz. Es lädt ein, das Leben leicht zu nehmen, Widersprüche im eigenen und fremden Verhalten zu akzeptieren und beim Denken das Interessante in der Unschärfe und der Frage zu sehen, nicht in der Klarheit und der eindeutigen Antwort.

Die Karriere des Authentischen


Das Authentische bedient eine Sehnsucht nach dem Hier und Jetzt, nach dem Greifbaren, dem Realen, dem Echten. In einer Welt, in der wir in wenigen Stunden von Berlin nach Boston, von Paris nach Peking jetten, in der Skype und WhatsApp kommunikative Distanzen aufheben, in der Fakes und Deep Fakes den Glauben an Evidenz erschüttern und künstliche Intelligenz die Grenze zwischen Mensch und Maschine verschwimmen lässt, da wächst der Wunsch nach Realem und/oder Lokal-Greifbarem, an dem man sich festhalten kann.

Das Digitale hat unser Leben in den vergangenen fünfzehn Jahren stärker verändert als die Industrialisierung in den 150 Jahren zuvor. Ich entsperre mit dem Handy das Car-Sharing-Auto vor der Tür, lasse mich von Google zum Bahnhof navigieren und kaufe auf dem Weg vom Auto zum Gleis ein Ticket in der DB-App. Im Hintergrund dieser individuellen Erfahrungen verbinden global angelegte und digital optimierte Lieferketten Rohstoffe, Fabriken und Konsumenten auf unterschiedlichen Kontinenten. All dies ist Zeichen einer digitalen Verfügbarkeit in einer globalisierten Welt, die noch vor zwanzig Jahren undenkbar schien.

Digitalisierung überbrückt Distanzen, erspart es uns, Zeit auf unangenehme Tätigkeiten zu verwenden, ermöglicht bessere Therapien bei Krankheiten, macht Wissen weltweit in Sekundenschnelle verfügbar, verbindet Menschen mit ausgefallenen Hobbys oder Vorlieben und erlaubt auch denjenigen gesellschaftliche Teilhabe, die in ökonomisch schwachen oder abgelegenen Regionen leben. Globalisierung ermöglicht individuelle Mobilität, optimiert den Einsatz von Ressourcen und verbindet unterschiedliche Kulturen.

Einerseits also sind Digitalisierung und Globalisierung ein Geschenk. Andererseits sind wir schlichte Steinzeitmenschen, die zu ihrem Glück nicht mehr brauchen, als – in ein flauschiges Fell gehüllt – mit einigen lieben Menschen am Lagerfeuer zu sitzen und ein leckeres Stück Säbelzahntiger zu braten. In einer digitalen und globalisierten Welt aber läuft das Lagerfeuer auf YouTube, das Fell stammt von Ikea, der Säbelzahntiger von Beyond Meat, und die lieben Menschen sind auf Tinder anwesend, wo sie gemütlich nach links und rechts gewischt werden. In einer solchen Welt verspricht das Streben nach Authentizität Abhilfe. Charles Taylor schlug schon 2007 vor, die Gegenwart als Age of Authenticity zu bezeichnen.[5] Seitdem hat sich die Sehnsucht nach dem Authentischen noch deutlich verstärkt.

Digitalisierung bedeutet ‹Fake›, Globalisierung bedeutet Ungebundenheit. Beides durchaus mit positiven Konsequenzen: Das digitale Lagerfeuer spendet auch denjenigen wohlige Geborgenheit, die sich keinen eigenen Kamin leisten können. Das künstliche Fleisch erspart Tierleid und verringert den CO2-Ausstoß. Die App der Bahn verhindert, dass ich eine halbe Stunde am Schalter anstehen muss, um einen ‹authentischen› Ticket-Kauf zu erleben. Skype, WhatsApp und Co. ermöglichen es mir, mit Menschen in Kontakt zu bleiben, ohne wochenlang auf die echte Postkarte aus Australien warten zu müssen. Doch weil wir gleichzeitig in der digitalen Zukunft und in der steinzeitlichen Vergangenheit leben, weil wir in unmittelbarer Folge um die Welt reisen und uns über unser kleines Zuhause freuen, bedingen Digitalisierung und Globalisierung ein zu ihnen gegenläufiges Momentum: die Sehnsucht nach Authentizität. Was aber ist daran das Problem?

Die Willkür des Authentischen


Wenn jemand sagt, jemand oder etwas sei ‹authentisch›, behauptet er willentlich oder unwillkürlich Folgendes: Eine Beobachtung lasse Rückschlüsse auf eine...