Sprachdämmerung - Eine Verteidigung

Sprachdämmerung - Eine Verteidigung

von: Jürgen Trabant

Verlag C.H.Beck, 2020

ISBN: 9783406750168 , 241 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 22,99 EUR

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Sprachdämmerung - Eine Verteidigung


 

1

Der Mensch ist nur Mensch
durch Sprache


«Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache», sagt Wilhelm von Humboldt in seiner ersten Rede vor der Berliner Akademie, am 29. Juni 1820 (GS IV: 15).[1] Ein starker Spruch, gleichsam eine evolutionär-anthropologische Version des ersten Satzes des Johannes-Evangeliums: «Am Anfang war das Wort» – am Anfang des Menschen nämlich. Indem Humboldt die alte aristotelische Bestimmung des Menschen als zoon logon echon, als «Sprache habendes Wesen», vor allem mit dem «nur» erheblich pointiert, gewinnt sein einfacher Spruch ein gewisses Irritationspotential. Er macht offensichtlich das Menschsein exklusiv vom Besitz der Sprache abhängig. Das empört bestimmte Menschenfreunde und reizt entschiedene Bilderfreunde.

Die Ersteren fragen: Schließt Humboldt damit nicht Menschen aus der Menschheit aus, die mehr oder minder große Defizite bei der Sprache haben? Nimmt er nicht kleine Kinder, «Wolfskinder», Gehörlose, Anderssprachige, Schlechtsprechende, Aphasiker, Demente und aus anderen Gründen Sprachlose vom Menschsein aus?[2] Doch Humboldt sagt nicht, dass der Mensch schon von Geburt an eine voll ausgearbeitete Sprache haben muss, dass seine Sprache eine Lautsprache sein muss, dass er eine bestimmte Sprache zu sprechen hat, diese Sprache auch noch richtig und schön sprechen sollte und dass er zu jedem Moment seines Lebens fähig sein muss, sie zu sprechen, um Mensch zu sein. Er sagt bloß: «Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache.»

Wir müssen also fragen, was mit der «Sprache» gemeint ist, durch die der Mensch Mensch sein soll. Es ist nicht eine bestimmte Sprache oder die voll entfaltete Sprachlichkeit, sondern, wie Humboldt sich ausdrückt, ihr «Typus». Und dieser ist die «Verstandeshandlung, welche zum Begreifen eines einzigen Wortes erfordert wird», nämlich die Verbindung der Reflexion mit der Artikulation: «Der Mensch besitzt die Kraft, diese Gebiete [das Denkbare und das Lautliche] zu theilen, geistig durch Reflexion, körperlich durch Articulation, und ihre Theile wieder zu verbinden, geistig durch die Synthesis des Verstandes, körperlich durch den Accent, welcher die Silben zum Wort, und die Worte zur Rede vereint» (GS IV: 4). Mit anderen Worten gesagt ist der «Typus» Sprache die synthetische Verbindung von «Bedeutung» mit artikulierten Lauten, mit welcher der Mensch sein Denken produziert. Er ist, in einer weiteren berühmten Wendung Humboldts, «die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen» (GS VII: 46). Hinzukommt, dass jene Kraft «dieselbe Durchdringung im Hörenden bewirkt» (GS IV: 4), so dass die Arbeit des Geistes sich in der Gemeinsamkeit von Ich und Du vollendet.

Man braucht dieser Beschreibung des «Typus» der Sprache nicht zuzustimmen und kann etwas anderes als Typus annehmen, zum Beispiel, wie der einflussreiche amerikanische Linguist Noam Chomsky, eine Universalgrammatik. Ich folge hier allerdings Humboldt: Sprache ist demnach «das bildende Organ des Gedanken» (GS VII: 53). Humboldt beschreibt die Keimzelle universeller Sprachproduktion, und diese tragen alle Menschen als angeborene Disposition in sich, sie muss «als unmittelbar in den Menschen gelegt angesehen werden». In der Druckfassung seines Vortrags hat Humboldt die Worte «von Gott» gestrichen, die im Manuskript vor «unmittelbar» standen. Das erlaubt es uns, modern umzuformulieren: «Sprache» bezeichnet eine genetisch gegebene Fähigkeit zur Produktion des Denkens, über die nur der Mensch verfügt und durch die er daher Mensch ist.

Humboldts Satz steht in einer Passage, in der es um den Ursprung der Sprache geht. Humboldt lehnt hier eine allmähliche – er verwendet das aparte Wort «umzechige» – Evolution der Sprache ab, wie sie die meisten Sprachursprungstheorien des 18. Jahrhunderts angenommen haben: «Es hilft nicht, zu ihrer [der Sprache] Erfindung Jahrtausende und abermals Jahrtausende einzuräumen» (GS IV: 14). Stattdessen nimmt Humboldt gleichsam einen qualitativen Sprung an. Es gibt für ihn kein Mehr oder Weniger an Sprache – entweder man hat den «Typus» der Sprache oder nicht: «Die Sprache ließe sich nicht erfinden, wenn nicht ihr Typus schon in dem menschlichen Verstande vorhanden wäre» (GS IV: 15). In dieser Hinsicht sind sich Chomsky und Humboldt im Übrigen völlig einig. Und der Mensch ist auch für Chomsky nur Mensch durch Sprache.

Gerade durch die Annahme eines angeborenen «Typus» sind aber auch die genannten scheinbar sprachdefizitären Menschen natürlich Menschen: Säuglinge sind ja nur auf den ersten Blick infantes, «Nicht-Sprechende», wie der lateinische Ausdruck zu verstehen gibt. In Wirklichkeit ist in sie wie in jedes menschliche Wesen genetisch die Fähigkeit zur Sprache gelegt, die sich nach einem gegebenen Bioprogramm im sozialen Verkehr mit anderen Menschen entwickelt und zu voller Sprachlichkeit entfaltet, in Tausenden verschiedenen Sprachen, die den ganzen Reichtum jener «Arbeit des Geistes» ausmachen. Der Ausdruck infantes ist auch insofern unzutreffend, als schon das neugeborene – ja selbst das ungeborene – Menschenwesen Sprache in einem weiteren Sinn des Wortes hat: Es kommuniziert von Anfang an mit allem, was es umgibt. Das meinte Herder mit dem berühmten ersten Satz seiner «Abhandlung über den Ursprung der Sprache»: «Schon als Thier hat der Mensch Sprache» (Herder 1772: 9). Allerdings ist diese «Tiersprache» nach Herder noch nicht jene Sprache, die den Menschen zum Menschen macht. Auch Humboldt meint nicht Kommunikation, wenn er «Sprache» sagt, sondern das skizzierte kognitive Verfahren, die Gliederung des Denkbaren in «Portionen des Denkens» und des Lauts in unterscheidbare Segmente. Jedoch geht es hier um ein Denken, das sich in der Dimension des anderen erzeugt: ein «Mit-Denken», wie der junge Humboldt es einmal mit einem genialen Ausdruck nannte (GS VII: 583).

Nicht nur Kleinkinder, auch «Wolfskinder» haben wie alle Menschen die genetische Ausrüstung zur Sprache. Aber sie haben das Zeitfenster verpasst, das ihnen die volle Entfaltung dieser genetischen Ausstattung ermöglicht hätte, unwiederbringlich. Menschen, die Sprache haben, sind sie trotzdem. Den Gehörlosen spricht Humboldt ausdrücklich Sprache zu (eine damals überhaupt noch nicht allgemein akzeptierte Auffassung), auch wenn deren Zeichen anders sind als diejenigen der lautsprachlichen Mehrheit; geistig und körperlich gegliedert ist sie aber durchaus.

Es ist eine Gemeinheit vieler Völker, nicht nur Kinder «Nicht-Sprechende» zu nennen, sondern auch anderen Völkern, die sie nicht verstehen, die Sprache überhaupt abzusprechen. Die Griechen nannten die anderen Völker barbaroi – das sind diejenigen, die brbr machen, also tierische Laute ausstoßen. Die Slawen nennen die Deutschen «die Stummen», also solche, die nicht sprechen. Bezeichnungen dieser Art negieren tatsächlich das Menschsein von Anderssprachigen. Aber nach Humboldt gibt es natürlich keine brbr-Sager und keine «Stummen», denn die Sprache ist ja «unmittelbar in den Menschen gelegt». Auch die Schlechtsprechenden, die wir oft aus unseren Gemeinschaften ausschließen (durch schlechte Zeugnisse, Lächerlich-Machen, Verweigerung von Arbeitsplätzen etc.), sind deswegen selbstverständlich keine Un-Menschen. Schließlich: Aphasiker, Demente und Überwältigte hören nicht auf, Menschen zu sein, nur weil sie nicht mehr sprechen können. Die Sprache ist nach wie vor «in sie gelegt», selbst wenn sie sie nicht mehr hervorbringen können. Es ist wie mit dem aufrechten Gang, der ja ebenfalls ein ziemlich exklusives menschliches Merkmal (und eine der vielfältigen Vorbedingungen für Sprache) ist: Es ist in den Menschen gelegt, dass er aufrecht geht, er richtet sich nach einem biologischen Wachstumsprogramm auf und ist dann dieses aufrechte Wesen. Wenn aber ein Mensch durch Krankheit oder Alter nicht mehr laufen kann, hört er nicht auf, ein Mensch zu sein, ebenso wie er zu Beginn des Lebens, als er noch nicht laufen konnte, schon ein Mensch war.

Humboldts Spruch irritiert des weiteren durch seinen ausdrücklichen, scheinbar skandalösen Glottozentrismus: «Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache.» Ist es wirklich allein die Sprache, die den Menschen zum Menschen macht? Sind nicht Artefakte, Zeichen, Symbole, ...