Proust lesen - Ein Essay

Proust lesen - Ein Essay

von: Saul Friedländer

Verlag C.H.Beck, 2020

ISBN: 9783406755125 , 210 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

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Proust lesen - Ein Essay


 

Einleitung


«Proust?», fragte mich ein französischer Bekannter, als ich ihm von meinem Vorhaben erzählte, «warum Proust?» Meine Antwort war vage, und die Frage war genau der Punkt: Warum Proust? Die Vagheit meiner Antwort war ebenfalls der Punkt: Ich konnte nicht genau sagen, warum ich beschlossen hatte, über Proust zu arbeiten, oder vielleicht wollte ich es auch nicht sagen. Eines stand fest: Ich hatte nicht die Kompetenz und sicherlich auch nicht die Absicht, ein weiterer Proust-«Spezialist» zu werden. Und doch war mein Verlangen, im Besonderen über «À la Recherche» zu schreiben, nicht einfach willkürlich; dessen war ich mir sicher. War es die Schönheit von «Auf der Suche»? Die Komplexität? Zweifellos spielten diese Aspekte eine Rolle, vor allem als ich «Auf der Suche» wieder und wieder las. Aber war da nicht noch mehr? Las ich den Roman nicht immer wieder, weil er einem inneren Bedürfnis entsprach, weil er auf etwas in meinem persönlichen Leben antwortete, das danach rief, sich in dieses Buch zu vertiefen – etwas, das ganz genau auf es abgestimmt war? Einige Themen des Romans kamen meinem eigenen jahrzehntelangen Nachsinnen, vor allem über Identität, sehr nahe.

Was auch immer die Motivation gewesen sein mag, ich begann die «Suche» mit besonderer Aufmerksamkeit wieder zu lesen und nahm schon bald Aspekte wahr, die mir zuvor entgangen waren, und die, wie ich nach einiger Recherche feststellte, allgemein keine Beachtung gefunden hatten. Natürlich fühlte ich erneut den außergewöhnlichen Sog eines Textes, der für mich, wie für so viele andere Leser, nicht nur der großartigste Roman der französischen Literatur ist, sondern wohl auch einer der wichtigsten Romane, die je geschrieben wurden.

«Auf der Suche» lässt sich leicht zusammenfassen, da es kaum eine Handlung gibt; es ist der Lebensbericht eines Erzählers, dessen größter Wunsch es von Kindheit an ist, Schriftsteller zu werden. Da er sein literarisches Talent anzweifelt, verbringt er als erwachsener Mann Jahrzehnte mit Müßiggang, um sich dem sozialen Aufstieg von seinem bürgerlichen Hintergrund bis in die höchsten Schichten des französischen Adels zu widmen. Erst im späten Erwachsenenalter entdeckt er rein zufällig, durch eine Art von Epiphanie, ausgelöst durch eine Welle unwillkürlicher Erinnerungen, dass er die literarisch schöpferische Gabe besitzt, durch die er seinen Traum verwirklichen kann. Er beginnt also, die Geschichte seines Lebens niederzuschreiben. Diese wird in weiten Teilen Erinnerungen aus seinen Jahren des Müßiggangs schildern, die, ohne dass er es wusste, eigentlich Jahre der Vorbereitung waren. Von da an wird sein Schreiben wahrhaft eine Suche nach der verlorenen Zeit sein, was im französischen Original sowohl vergessene Zeit bedeutet, die wiederentdeckt, als auch verschwendete Zeit, die zurückgewonnen oder aufgeholt werden muss.

Während der Erzähler uns (möglicherweise, um der gleichsam magischen Wirkung der unwillkürlichen Erinnerung mehr Gewicht zu verleihen) erklärt, dass er, was das Schreiben anbetrifft, bis in sein spätes Erwachsenenleben hinein untätig geblieben war, schrieb Proust selbst, wenngleich auf seinen sozialen Aufstieg fixiert und immer wieder von Krankheit geplagt, all diese Jahre hindurch unermüdlich: Kurzgeschichten, die 1896, als er 25 Jahre alt war, unter dem Titel «Les Plaisirs et les Jours» («Freuden und Tage») publiziert wurden, einen etwa 800 Seiten langen Roman («Jean Santeuil»), der zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht blieb, ein weiteres, erst posthum erschienenes Buch mit literaturkritischen Texten und Romanfragmenten («Contre Sainte-Beuve») und verschiedene leichtere Artikel für Zeitungen und Journale, hauptsächlich Pastiches bekannter Autoren. Bemerkenswerterweise enthalten all diese frühen Schriften, die publizierten und die nicht publizierten, eine stetig wachsende Anzahl von Themen, die in jenem großen Roman wieder auftauchen, der irgendwann 1909 begonnen wurde, und dessen beide letzten Bände erst nach dem Tod des Autors 1922, mit 51 Jahren, erschienen.

Die Zeit, die der Erzähler «verschwendet» hat, schenkte uns, den Lesern, die außergewöhnlichen Beschreibungen der französischen Gesellschaft zur Zeit der Belle Époque, vor allem der gehobenen Bourgeoisie (der Verdurins und ihres Salons) und der höchsten Adelsschichten, des Faubourg Saint-Germain (repräsentiert durch mehrere Salons, vor allem aber durch den des Herzogs und der Herzogin von Guermantes). Der Erzähler drängt uns keine Sozialanalyse auf, sondern offeriert uns die Dinge in einem beständigen Strom von Beobachtungen: Diese reichen von den prachtvollen Domizilen und der materiellen Umgebung der quasi mythischen adligen Familien bis hin zu ihren Persönlichkeiten, ihrem Geschmack, ihren Albernheiten und Gehässigkeiten, die vor allem in ihrer Konversation zum Ausdruck kommen.

Walter Benjamin, dem in Paris lebenden deutsch-jüdischen Emigranten, zufolge beschrieb der französische Romancier und Politiker Maurice Barrès «Auf der Suche» als das Werk «eines persischen Dichters in einer Hausmeisterloge». Diese amüsante Beschreibung ist nicht abwegig. Einer der hervorstechendsten Aspekte des Romans besteht tatsächlich in den endlosen Konversationen, die mit außergewöhnlichem Feinsinn (dem Feinsinn des persischen Dichters, nicht des Hausmeisters) die psychologischen Eigenheiten der Hauptfiguren, die die Welt des Erzählers bevölkern, ans Licht bringen. Im Übrigen schätzten nicht alle großen Geister diesen Feinsinn. Seinem jüngsten Biographen zufolge erwähnte de Gaulle seinem Sohn gegenüber, dass er Prousts Manieriertheit, seinen gezierten Stil und sein künstliches Milieu, in dem Abendgesellschaften das Wichtigste im Leben seien, nicht mochte.

Die Erzählung entfaltet sich auf vielen Ebenen, insbesondere, wie gerade erwähnt, auf jener der sozialen Beschreibung, aber ebenso auf der Ebene der persönlichen Reaktionen, Beobachtungen, Entscheidungen und Gefühle des Erzählers. Auf dieser persönlichen Ebene gibt es viel Leidenschaft und Schmerz, aber – überall verwoben mit den emotionalen Drehungen und Wendungen – auch überwältigende Evokationen von Natur, Kunst, Literatur und, inmitten so vieler anderer verschiedener Mikrokosmen, die Straßengeräusche von Paris bei Tagesanbruch.

Die Geschichte wird uns von einem fiktiven Avatar erzählt, der sich an den Verlauf seines eigenen Lebens zurückerinnert, von der Kindheit bis zu dem Moment, in dem er sich schließlich, Jahrzehnte später, in der Lage fühlt, mit dem Schreiben zu beginnen. Die Erinnerungen des Erzählers bleiben sehr dicht an der Biographie des Autors. Ich werde meine Aufmerksamkeit jenen Themen in den Schilderungen des Avatars widmen, die, wie schon erwähnt, scheinbar nicht bedacht wurden, meiner Ansicht nach jedoch entscheidend sind. Meine Interpretationen werden sich nicht immer innerhalb der Textgrenzen bewegen; bisweilen werden sie, vom Text ausgehend, in die persönliche Welt des Autors und von dieser Welt zu einem weitreichenderen Verständnis des Textes führen.

Dieses Hin und Her von Text zu Autor und von Autor zu Text wird den Kern meiner Herangehensweise bilden und bedarf weiterer Erklärungen. Bei einer Reihe von bedeutenden Themen weicht der fiktive Erzähler von seinem biographischen Vorbild ab und macht sonderbare Angaben, die dem, was wir über das Leben des Autors wissen, widersprechen; derlei Diskrepanzen sind ganz offenbar beabsichtigt. Dann wiederum wird, manchmal gleich im Anschluss, in anderen Fällen Hunderte von Seiten später, ein kleines Detail erwähnt, welches das Gegenteil der vorangegangenen Äußerungen beteuert. Aus unerfindlichen Gründen jedoch haben diese seltsam widersprüchlichen Aussagen des Erzählers unter Proust-Gelehrten keine angemessene Aufmerksamkeit gefunden.

Es geht mir natürlich nicht allein darum herauszufinden, was der Erzähler wirklich im Sinn hat, sondern ich möchte ergründen, was er im Sinn zu haben oder zu verbergen scheint – um anhand der Aussagen des Erzählers die versteckten Hinweise oder Verschleierungsversuche des Autors zu verstehen. Und so, indem ich versuche, die Strategie des Autors auf Grundlage der Mehrdeutigkeiten des Erzählers zu entschlüsseln, werde ich mich den bereits erwähnten großen Themen und einigen anderen weniger wichtigen Aspekten nähern.

Man mag dagegenhalten, dass «Auf der Suche» ein fiktives Werk ist, dass der Erzähler ein frei erfundener Charakter ist, dessen Autobiographie, Standpunkte und Haltungen – ob sie nun jene des Autors getreu widerspiegeln oder kontrastieren – als von diesem ganz und gar unabhängig betrachtet werden sollten. Proust selbst versicherte mehrfach, dass die Lebensgeschichte, die der Erzähler schildert, nichts zu tun habe mit seinem ...