LEBEN. Meine Geschichte in der Geschichte - Das neue Buch von Papst Franziskus | Wie die Zeit ihn bewegte, formte und führte | Seine persönliche Lebensgeschichte im Kontext historischer Ereignisse

LEBEN. Meine Geschichte in der Geschichte - Das neue Buch von Papst Franziskus | Wie die Zeit ihn bewegte, formte und führte | Seine persönliche Lebensgeschichte im Kontext historischer Ereignisse

von: Papst Franziskus

HarperCollins, 2024

ISBN: 9783749907632 , 272 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 16,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

LEBEN. Meine Geschichte in der Geschichte - Das neue Buch von Papst Franziskus | Wie die Zeit ihn bewegte, formte und führte | Seine persönliche Lebensgeschichte im Kontext historischer Ereignisse


 

Im Radio werden wie jeden Morgen die Nachrichten verlesen. Mario Bergoglio schaltet den Apparat immer ein, bevor er zur Arbeit geht, während er in der kleinen Küche Kaffee kocht. Der Fußboden glänzt noch feucht, denn seine Frau Regina hat bereits einen kurzen Moment der Ruhe genutzt, um ihn zu wischen. Der Duft und das Aroma des schwarzen, dampfenden Getränks wecken in Mario Erinnerungen an Italien und seine Kindheit in Portacomaro bei Asti im Piemont, ein bisschen so, wie es dem Erzähler in Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ergeht, als er sich durch den Geschmack einer in Lindenblütentee getauchten Madeleine an seine Tante Léonie und die Welt seiner Kindheit erinnert. Marios Erinnerungen jedoch werden durch das Weinen seines zweitgeborenen Sohnes Óscar gestört, das die gesamte Nachbarschaft nicht zur Ruhe kommen lässt.

In den im Hintergrund laufenden Nachrichten geht es hauptsächlich um Politik: Präsident Roberto Ortiz hat eine neue Erklärung über die »Sonderkommission zur Untersuchung antiargentinischer Aktivitäten« veröffentlicht, die 1938 eingerichtet wurde, um im Land nationalsozialistische Umtriebe einzudämmen. Weiter werden im Laufe des Tages neue Arbeitskämpfe der Confederación del Trabajo erwartet. Im September 1939 brechen in vielen argentinischen Städten heftige politische Gegensätze auf. Das »Dritte Reich« findet in Teilen der Gesellschaft Anhänger, und einige Radiostationen verherrlichen sogar zuweilen die Größe Deutschlands unter Adolf Hitler.

Vor dem Verlassen des kleinen, bunten Hauses in der Calle Membrillar 531 im Barrio Flores stürzt Mario seinen Kaffee hinunter und verabschiedet sich mit einem Kuss von Regina, die inzwischen den ein Jahr und acht Monate alten Jungen auf den Arm genommen hat, um ihn zu beruhigen. Jorge dagegen, der ältere der beiden Söhne des jungen Paares, ist schon bereit, abgeholt zu werden. Ein paar Minuten später wird seine Großmutter Rosa, Marios Mutter, die wenige Meter entfernt wohnt, erscheinen, um ihn mit zu sich nach Hause zu nehmen, wo er den ganzen Tag verbringen wird. Fast jeden Tag greift Rosa so ihrer Schwiegertochter unter die Arme, damit diese die viele Hausarbeit erledigen und sich um Óscar kümmern kann.

Nachdem Mario auch seinen Kindern einen Kuss gegeben hat, steht er mit seiner Frau schon an der Tür. In dem kurzen Augenblick der Stille wird er plötzlich durch eine Radiomeldung aufgeschreckt: Der britische Premierminister Chamberlain verkündet die Kriegserklärung seines Landes an Deutschland. Das wenige Stunden zuvor gestellte Ultimatum nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen hat Hitler ohne Antwort verstreichen lassen.

Es ist der Beginn des Zweiten Weltkrieges. Vor allem in Südamerika aber begreift das noch niemand so recht. In Argentinien wird der Nachricht so wenig Bedeutung beigemessen, dass sie erst am Ende der Sendung kurz vor einem musikalischen Intermezzo verlesen wird. Das italo-amerikanische Paar Bergoglio dagegen ist zutiefst bestürzt. Beide denken sofort an ihre Cousins und die übrigen Verwandten in Europa, und zugleich steigt in ihnen die Erinnerung an die oft gehörten, schrecklichen Schilderungen des Ersten Weltkrieges aus dem Munde von Marios Vater Giovanni hoch, der an der Front gekämpft hatte. Diese traurigen und sorgenvollen Gedanken werden jedoch schon wenige Sekunden später verscheucht, als Rosa zweimal kräftig an die Tür klopft. Der plötzliche Lärm bringt sogar Óscar zum Schweigen, und ihr Kommen erfüllt alle mit Freude. Jorge rennt seiner Großmutter entgegen, um sich von ihr in die Arme schließen zu lassen.

Was für eine großartige Frau, ich habe sie sehr geliebt! Meine Großmutter väterlicherseits war eine der wichtigsten Menschen für meine Erziehung und Bildung. Sie wohnte nicht einmal fünfzig Meter von unserem Haus entfernt, ich verbrachte den ganzen Tag bei ihr. Sie ließ mich spielen und sang mir Lieder aus ihrer Kindheit vor. Oft hörte ich sie auf Piemontesisch mit meinem Großvater diskutieren, und so erlernte auch ich die Sprache ihrer Erinnerungen. Manchmal nahm sie mich auch mit zu den Nachbarn, mit denen sie sich lange unterhielt und Mate trank. Oder sie nahm mich mit, wenn sie Besorgungen im Viertel zu erledigen hatte, und abends brachte sie mich zurück zu Mama und Papa, aber nicht bevor sie mich dazu gebracht hatte, die Gebete zu sprechen. Tatsächlich war sie die erste Person, die mir die christliche Botschaft nahegebracht und mich beten gelehrt hat und von dieser großartigen Gestalt zu erzählen, die ich noch nicht kannte: Jesus.

Nicht umsonst war dann auch Oma Rosa neben Francesco, meinem Großvater mütterlicherseits, meine Taufpatin. Das erste Sakrament spendete mir Don Enrico Pozzoli, ein redlicher salesianischer Missionar, der ursprünglich aus der Provinz Lodi in der Lombardei stammte und den Großvater Giovanni in Turin kennengelernt hatte. Er war es auch, der meine Eltern getraut hatte: Papa und Mama hatten sich in der Jugendbegegnungsstätte der Salesianer in Argentinien kennengelernt, und seitdem war Don Enrico jemand, der maßgeblich war für unsere Familie und später für meine Berufung zum Priesteramt.

Wenn ich mich an die Zeit, die ich mit meiner Großmutter verbracht habe – damals war ich knapp drei Jahre alt, also noch sehr klein –, erinnere, ist es nicht so leicht, mir jene Tage im Jahr 1939 zu vergegenwärtigen, als die Bosheit der Menschen den Zweiten Weltkrieg entfesselte. In meinem Gedächtnis sind nur Momentaufnahmen aus unserem Alltag hängengeblieben: Das Radio lief immer im Hintergrund, mein Vater schaltete es schon am Morgen ein und hörte mit meiner Mutter zusammen den staatlichen Rundfunksender, der damals Estación de Radiodifusión del Estado (LRA 1) hieß; außerdem gab es Radio Belgrano und Radio Rivadavia, die ebenfalls täglich über den Kriegsverlauf berichteten. Meine Mutter schaltete das Radio auch am Samstagnachmittag ab 14 Uhr ein, damit wir Kinder eine Oper hören konnten. Ich erinnere mich daran, dass sie uns vor Beginn der Sendung in groben Zügen die Handlung erzählte. Bei einer besonders schönen Arie oder einem Höhepunkt der Handlung versuchte sie, unsere Aufmerksamkeit zu wecken. Ich muss zugeben, dass wir uns oft ablenken ließen, schließlich waren wir ja noch klein! Während Verdis Otello beispielsweise ermahnte Mama uns mit den Worten: »Passt auf, jetzt ermordet er Desdemona im Bett!« Dann wurden wir mucksmäuschenstill und warteten gespannt darauf, was folgen würde.

Um auf den Krieg zurückzukommen: Bei uns nahm man die bedrohliche Atmosphäre nicht so sehr wahr, weil wir weit von den Schauplätzen entfernt waren, auf denen das Schicksal der Menschheit entschieden wurde. Im Gegensatz zu vielen anderen Argentiniern habe ich vom Zweiten Weltkrieg erfahren, weil bei uns zu Hause darüber gesprochen wurde. Aus Italien erreichten uns, wenn auch mit einem Monat Verspätung, offene Briefe unserer Verwandten, in denen sie uns über das Geschehen informierten. Sie waren es, die uns Informationen über den Krieg in Europa übermittelten. Ich nenne diese Briefe offen, weil sie vom Militär kontrolliert wurden: Die Post wurde geöffnet, gelesen, wieder geschlossen und erhielt dann den Stempel ZENSUR. Ich weiß noch, wie Mama, Papa oder Oma diese Briefe laut vorlasen, die sich mir fest eingeprägt haben. In einem von ihnen berichteten sie uns beispielsweise davon, dass einige Frauen aus dem Dorf, die sie kannten, nach Bricco Marmorito nahe Portacomaro Stazione gegangen waren, um auszukundschaften, ob Kontrollen durch das Militär zu erwarten waren. Ihre Ehemänner waren in Bricco geblieben, um zu arbeiten, und das war offensichtlich verboten. Hätten die Frauen bei ihrer Rückkehr etwas Rotes angehabt, hätten die Männer sich sofort verstecken müssen. Weiße Kleider dagegen bedeuteten, dass es keine Patrouillen in der Gegend gab und die Männer weiterarbeiten konnten.

Aber dies ist nur eins der Beispiele, wie das Leben damals aussah. Wie viel Tod! Wie viel Zerstörung! Wie viele junge Männer wurden an die Front geschickt, um zu sterben! Auch wenn die Ereignisse mehr als achtzig Jahre zurückliegen, darf man nie die unzähligen Familien vergessen, deren Leben vollständig zerstört wurde. Der Krieg zerfrisst dein Innerstes, das sieht man in den Augen der Kleinsten, die keine Freude mehr in ihren Herzen tragen, sondern nur noch Angst und Traurigkeit. Denken wir an die kleinen Kinder! Denken wir an diejenigen, die noch nie in ihrem Leben Frieden erlebt haben, die schon im Krieg geboren sind, die mit diesem Trauma leben müssen und es lebenslang in sich tragen. Was können wir für sie tun? Wir müssen uns diese Frage stellen und den Weg zum Frieden suchen, den Weg, der diesen Kleinen eine sichere Zukunft sein kann.

Auch ich selbst habe den Zweiten Weltkrieg als Kind erlebt, hatte aber Glück, weil Argentinien von dieser Tragödie nicht wie andere Länder betroffen war. Es gab allerdings einige Seegefechte. Eines der wenigen Ereignisse, an das ich mich auch deshalb erinnere, weil mir meine Eltern später davon erzählt haben, fand genau an meinem dritten Geburtstag, am 17. Dezember 1939, statt. Im Radio hieß es, das deutsche Kriegsschiff Admiral Graf Spee sei an der Mündung des Río de La Plata von britischen Schiffen eingekreist und schwer beschädigt worden. Gegen Hitlers Befehl, den Kampf fortzusetzen, entschied Kapitän Langsdorff im Einvernehmen mit seinen Offizieren, das Schiff zu versenken, evakuierte sich selbst und die Mannschaft auf verschiedene Boote und fuhr nach Buenos Aires. Einige Tage später, in der Nacht vom 19. zum...