Revolution aus dem Mikrokosmos

Revolution aus dem Mikrokosmos

von: Martin Reich

Residenz Verlag, 2024

ISBN: 9783701747207 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

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Revolution aus dem Mikrokosmos


 

Teil 1:


Mikroskopische Lösungen für globale Herausforderungen


Vom Labor in die Küche


Als Biologiestudent und später als Doktorand habe ich viele Jahre lang Experimente in den Laboren einer Universität durchgeführt. Die Pflanzen, die ich für meine Versuche brauchte, zog ich in einem speziellen Gewächshaus an, setzte sie in sogenannten Klimakammern unterschiedlichen, simulierten Umweltbedingungen aus und erntete sie schließlich. Um zu untersuchen, wie sich unterschiedliche Temperaturen, der Gehalt an Kohlenstoffdioxid (CO2) in der Luft oder die Art und Menge der Nährstoffe im Bereich der Wurzeln auf Wachstum und Stoffwechsel der Pflanzen auswirken, habe ich viele Hunderte von ihnen zerschnitten, getrocknet, gemahlen, eingefroren, erhitzt und in Säure aufgelöst. Und das immer nach einem ganz bestimmten Rezept, das Versuchsaufbau, Dauer des Wachstums und der Behandlungen und die Mengen und Konzentrationen von Chemikalien vorgab. Und das ich streng befolgt habe, um die gewonnen Daten vergleichbar, meine Versuche wiederholbar und für andere überprüfbar zu gestalten.

Für viele Menschen sind ein Labor und eine Küche grundlegend verschiedene, wenn nicht sogar gegensätzliche Welten. Während in Laboren reine Ratio herrscht und Menschen in weißen Kitteln und mit ernstem Blick unnatürliche Dinge tun, sind in der Küche Genuss, Intuition und Natürlichkeit die Maximen. Doch eigentlich sind sich die beiden Orte auch sehr ähnlich. Zwar ist wissenschaftliche Methodik akribisch und emotionslos, doch sie verfolgt häufig sehr idealistische Ziele. Und auch in der Küche geht man nach einem bestimmten Rezept vor, zerlegt Zutaten, setzt sie Hitze, Kälte, Säuren und anderen Behandlungen aus, um zu einem erwünschten Ergebnis zu kommen. Statt dann aber mit modernen Geräten Messungen durchzuführen, nutzen wir unsere mindestens ebenso feinen und komplexen Sinne für die Auswertung unserer Experimente.

Seit bald sieben Jahren bin ich nun nicht mehr aktiv in der Forschung tätig. Ich habe die Pipette gegen die Feder eingetauscht – na gut, gegen die Tastatur – und erst vor einiger Zeit wurde mir wirklich bewusst, dass womöglich ein Zusammenhang zwischen meiner Leidenschaft für das Kochen und jener für die Laborarbeit besteht. Nachdem ich weiße Kittel und lange Nächte über noch längeren Tabellen hinter mir gelassen hatte, wurde tatsächlich auch meine Leidenschaft für die Küche noch ausgeprägter, wie um die entstandene Lücke zu füllen. Und da meine Familie und ich inzwischen das Glück haben, einen Garten zu besitzen, kann ich sogar wieder Pflanzen großziehen, pflegen und sie gelegentlich meinen Experimenten in der Küche opfern.

Die Verbindung zwischen Labor und Küche ist für mich also eine sehr persönliche. Doch auch ganz objektiv betrachtet, hat die Herstellung unserer Lebensmittel heutzutage viel mit Laboren zu tun, oder zumindest mit einer Verarbeitung unter sehr kontrollierten Bedingungen, die dem Geschehen in einem Labor ähnlicher sind als jenen in einer gewöhnlichen Küche. Einen Großteil unserer Lebensmittel essen wir nicht so, wie sie vom Feld, aus dem Gewächshaus, dem Stall oder dem Meer kommen. Vieles, wenn nicht das meiste, wird in irgendeiner Form verarbeitet: erhitzt, zerkleinert, gefiltert, erhöhtem Druck ausgesetzt, voneinander getrennt und mit anderen Stoffen angereichert. Immer öfter stehen verarbeitete oder sogar sogenannte hochverarbeitete Lebensmittel im Fokus und in der Kritik. Wie sehr kann man ein Lebensmittel verarbeiten, ohne dass man infrage stellen muss, ob es diese Bezeichnung überhaupt noch verdient? Oder ist ein Lebensmittel als solches vor allem über seinen Nährwert definiert, unabhängig davon, wie viele Verarbeitungsschritte es durchlaufen hat und wie ähnlich es noch etwas ist, das man in der Natur vorfindet?

Die fortschreitende Industrialisierung der Herstellung und Verarbeitung von Lebensmitteln, bei der die meisten Schritte im für uns Konsument:innen mehr oder weniger Verborgenen stattfinden, hat Gegenbewegungen hervorgerufen. Beispiele sind die Whole-Food- und die Slow-Food-Bewegung, die den Fokus zurücklenkten auf unverarbeitete Lebensmittel und eine Besinnung auf den Genuss ursprünglicher Lebensmittel. Aber auch die Wiederentdeckung des Anbaus von Lebensmitteln im Garten oder auf dem Balkon und die Zubereitung in der eigenen Küche sind kleine Akte der Rebellion. Sie haben nicht nur zur Folge, dass man mehr über die Entstehung von Lebensmitteln lernt, ihre Erzeugung ein Stück weit wieder in die eigenen Hände nimmt und sich als Verbraucher:in souveräner fühlt. Es handelt sich auch schlicht und ergreifend um ein erfüllendes und interessantes Hobby. Jedenfalls erlebe ich es für mich als solches. Gleichzeitig gebe ich mich nicht der Illusion hin, dass es mehr ist als das. Auch wenn ich heute viel mehr Zeit als früher darauf verwende, etwas im Garten anzubauen, selbst zu fermentieren und zu kochen: Ich produziere damit nur einen Bruchteil von dem, was wir bei uns zu Hause essen und trinken. Das Allermeiste wird von Landwirt:innen produziert und vieles davon in irgendeiner Form industriell verarbeitet, bevor es auf unseren Tellern landet.

Das ist die eine Seite der Medaille. In wohlhabenden, industrialisierten Ländern wird ein immer größerer Teil der Wertschöpfung aus der primären Erzeugung von Lebensmitteln in die verarbeitende Industrie verlagert. Eine entfremdende Lücke zwischen uns Konsument:innen und der Landwirtschaft hat sich aufgetan und wächst immer weiter. Da bei der Verarbeitung meist einige der positiven Eigenschaften, die Lebensmittel natürlicherweise haben, verloren gehen, werden sie anschließend gezielt wieder aufgewertet. Vitamine und Mineralstoffe werden zugesetzt, Textur, Farbe und Geschmack werden durch Zusatzstoffe wiederhergestellt oder ganz neu erzeugt. Das ist eine Entwicklung, die ein ziemlich reduktionistisches Bild von Lebensmitteln zeichnet – als etwas, das Menschen aus Zutaten von Grund auf zusammenbauen. Als Gegensatz zu etwas, das man in der Natur vorfindet, mit all seiner Komplexität und vermeintlich »von Natur aus« positiven Wirkung auf uns. Wir bauen also die allermeisten unserer Lebensmittel nicht mehr selbst an, sie erreichen uns aber auch meist nicht mehr so, wie sie von anderen angebaut werden. Daher sehnen sich viele von uns nach einem Zurück zu einem (häufig verklärten) Früher, bauen wieder selbst Lebensmittel auf dem Balkon und im Garten an oder kaufen gezielt möglichst unverarbeitete Produkte. Dann liegt kein undurchsichtiger Weg zwischen Ernte und Teller, sondern nur jener vom Garten in die Küche. Doch auf der anderen Seite der Medaille ist die Verarbeitung von Lebensmitteln eine große zivilisatorische Errungenschaft. Denn vor nicht allzu langer Zeit war es nicht nur viel schwieriger, ausreichend Lebensmittel zu produzieren, sondern auch, sie über längere Zeit haltbar oder überhaupt erst genießbar und bekömmlich zu machen. Eine Technologie der Verarbeitung von Lebensmitteln, die wir Menschen bereits seit etwa 12 000 Jahren anwenden, spielt dabei eine besonders große Rolle: die Fermentation.

Zwei Gründe für mein Interesse an Fermentation, das inzwischen zur Leidenschaft geworden ist, sind also einerseits eine Begeisterung für die Zubereitung von Lebensmitteln und andererseits eine Vergangenheit im Labor. Es gibt jedoch noch einen dritten. Denn nach meiner Zeit an der Universität fing ich damit an, mich beruflich auf anderen Ebenen mit Themen der Biologie auseinanderzusetzen. Zunächst als wissenschaftlicher Referent für ein beratendes Expertengremium der deutschen Bundesregierung, das Herausforderungen und Lösungen der sogenannten Bioökonomie herausarbeitete. Meine Aufgabe war es, zu Themen wie Pflanzenzüchtung, Landwirtschaft, nachwachsenden Rohstoffen, Biotechnologie und Ernährung der Zukunft den aktuellen Stand des Wissens zu recherchieren und Textentwürfe für verschiedene Arbeitsgruppen des Gremiums zu schreiben, auf deren Basis die Mitglieder dann Empfehlungen an die Politik erarbeiten konnten. Diese Arbeit war ein interessanter Einblick in die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik, und gleichzeitig konnte ich meinen Wissensdurst stillen.

Später kamen im Rahmen anderer Projekte die Konzeption und Durchführung von Dialogformaten mit Bürger:innen, Ausstellungen und multimedialen Formaten für Wissenschaftskommunikation sowie zahlreiche Beiträge für Zeitschriften und das Internet hinzu. Dabei ist vor allem die Zukunft unserer Ernährung ein Thema, das mich besonders in seinen Bann gezogen hat und deshalb auch privat sehr beschäftigt. Ich schreibe Blogartikel über neue vegane Produkte, essbare Insekten oder Algen und gelte unter Freund:innen und Kolleg:innen als jemand, der einfach alles probieren muss. Seit einiger Zeit geht es dabei auch um neue Ansätze der Fermentation, also die Produktion von Lebensmitteln mit Mikroorganismen. Hier ist inzwischen Erstaunliches möglich, wie die Herstellung von Milchprotein, Eiweiß und tierischen Fetten, die vom Original bis hinunter auf die molekulare Ebene nicht mehr zu unterscheiden sind –...