Wie wir uns die Zukunft zurückholen

Wie wir uns die Zukunft zurückholen

von: Rudi Anschober

Christian Brandstätter Verlag, 2024

ISBN: 9783710607929 , 208 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 20,99 EUR

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Wie wir uns die Zukunft zurückholen


 

WIEN, IM MAI
2040
MEIN GEBURTSTAG


Es ist noch dunkel. Irgendetwas hat mich geweckt.

Didip – didip – didip, uuh – uuh – uuh.

Da ist es wieder.

Jetzt erkenne ich das Lied: Die Nachtigall, die sich vor wenigen Wochen nach ihrer Rückkehr aus dem Süden im mächtigen Lindenbaum hinter dem alten Haus einquartiert hat, singt wieder. Usignolo haben wir sie in Italien genannt.

Didip – didip – didip, uuh – uuh – uuh.

Belami, meinen Retriever, der wie jede Nacht neben dem Bett liegt, stört das nicht. Er bellt leise und ganz hoch im Schlaf, seine Pfoten scharren über den Holzboden, offensichtlich läuft er in einem wilden Traum irgendeinem Tier hinterher. Bald werden wohl die beiden Katzen wieder nach Hause kommen, über den Baum auf die Terrasse klettern und am Wassernapf ihren Durst stillen. Dass sie hier sind, höre ich dann am Schlabbern ihrer kleinen Zungen.

Ich liebe diese stillen Nachtstunden, die den leisen Geräuschen der Tiere Raum lassen. Vertraute Töne in einer besonderen Nacht. Den 12. Mai 2040 schreiben wir heute. Es ist mein Geburtstag. Ein besonderer Geburtstag: mein achtzigster.

Früher haben wir diese Zeit Mitte Mai als die „Eisheiligen“ bezeichnet, weil damals immer noch ein später Kälteeinbruch möglich war. Das ist heute nicht mehr zu erwarten, im Gegenteil: Mitte Mai sind Tropennächte keine Ausnahme mehr. Auch heute fühle ich bereits vor der Dämmerung die aufkommende Hitze. Feine Rinnsale aus Schweiß bilden sich auf meiner Haut, fließen auf das Bettlaken, hinterlassen kleine Flecken.

Im Bett liegend höre ich Belami nun wieder tief atmen, er hat sich beruhigt, sein Traum scheint vorbei zu sein. Mein Blick durch das Moskitonetz bleibt an dem großen alten Spiegel mit seinem mächtigen Goldrahmen hängen, der sich mir direkt gegenüber an der Schlafzimmerwand befindet. Er erinnert mich an mein Lebensmotto, das ich als Jugendlicher gewählt und mir im Laufe meines Lebens immer wieder ins Gedächtnis gerufen habe: Ich möchte mich mit achtzig in den Spiegel schauen, also den Respekt vor mir bewahren, und sagen können: Es war gut, ich habe alles versucht, habe meinen Beitrag geleistet.

Didip – didip – didip, uuuh – uuuh – uuh.

Usignolo beginnt wieder zu singen und unterbricht meine Erinnerungen. Es sind Balzlieder, mit denen er um eine Partnerin wirbt. Instinktiv lasse ich meine linke Hand über die Bettkante gleiten, hebe das Moskitonetz leicht an und taste nach Belami. Als ich ihm das Fell kraule, das wegen der Hitze kurz geschoren ist, beginnt er sich wohlig zu strecken und grunzt zufrieden. Wir sind miteinander vertraut.

Das Quietschen der Straßenbahn, die um die Kurve biegt, signalisiert mir den Beginn des Tages. Ich stehe auf, Belami hebt müde den Kopf und klopft mit seinem Schwanz ein einziges Mal auf den Boden, ehe er sich mit einem lauten Stöhnen wieder auf dem Holzboden ausstreckt und weiterschläft.

Ich gehe ein paar Schritte, leise, um meine Partnerin nicht zu wecken, bleibe vor dem Spiegel stehen und sehe einen alten Mann. Viele Falten und Altersflecken im Gesicht, die Haare weiß und dünn. Aber die Augen sind wach und klar.

Ich trete ans Fenster des Schlafzimmers und betrachte im ersten Morgenlicht die Umrisse unserer Hochbeete im Garten. Seit einigen Jahren pflanzen wir und andere Mieterinnen und Mieter dieses Hauses gemeinsam unser eigenes Gemüse an. Alle bringen Wissen und Zeit ein, dadurch ist ein Ort der Kooperation, der Begegnung und Unabhängigkeit entstanden.

Ich gehe in die Küche, schalte die Espressomaschine ein und befülle sie mit Kaffeebohnen aus Peru. Dieser Duft! Einmal im Jahr erhalte ich eine Lieferung vom Netzwerk jener Kleinbauern, die neue Kaffeesorten gezüchtet haben. Es sind hitzeresistentere Sorten, die mit wenig Wasser auskommen und so das Überleben der Ortsansässigen trotz der zunehmenden Trockenheit als Folge der Klimakrise sichern. Die Umstellung wurde mit Mikrokrediten aus einer Genossenschaft finanziert, in die ich einen Teil meines Ersparten eingezahlt habe, die Refinanzierung erfolgt über biologischen, fair produzierten Kaffee. Einmal im Jahr sehen wir uns bei einer Onlinekonferenz. Freundschaften sind entstanden.

Viele Großproduzenten, denen der globale Markt durch minimale Gewinnspannen keine Luft zum Atmen lässt, sind in den vergangenen Jahren an den Auswirkungen der zunehmenden Hitze gescheitert. Die Klimakrise hat Zehntausende Existenzen zerstört und die Preise am Weltmarkt in die Höhe getrieben – bei Kaffee genauso wie bei vielen anderen Lebensmitteln auch.

Ich kehre mit der roten Leine ins Schlafzimmer zurück und betätige den daran angebrachten Schnapper. Ein Geräusch, das den Morgenspaziergang ankündigt. Belami wird sofort wieder wach, mit einem Sprung ist er auf den Beinen, schüttelt sich kräftig und kommt mir mit freudig wedelndem Schwanz entgegen.

Gemeinsam drehen wir eine kleine Runde durch den Garten, die Blumenwiese gedeiht, bald werden viele Insekten unterwegs sein, dankbar für dieses kleine Stück Natur in der Stadt. Ich finde es großartig, dass wir auf unserem Planeten mittlerweile auf einem guten Weg sind, das Massensterben der Biodiversität, das bereits begonnen hatte, doch noch zu stoppen. Belami schnuppert aufgeregt, verfolgt für mich unsichtbare Spuren. In der Nacht kommen viele Wildtiere in den Garten und hinterlassen ihre Duftmarken, vom Dachs bis zu Fuchs und Marder. Bei den Brennnesselstauden in der Wiese beobachte ich die schwarzen Raupen der Tagpfauenaugen mit ihren kleinen weißen Punkten.

In der Natur ist alles eng miteinander verwoben, wir Menschen verstehen nur einen winzigen Teil davon. Schmetterlinge sind schon vor Hunderten Millionen Jahren über den Köpfen der Dinosaurier geflattert. Sie passen sich vielfach an, aber sie brauchen Nahrung, sie brauchen Wildblumenwiesen wie diese hier.

Den größten Teil des Gartens überdachen mehrere alte Bäume. Wir stehen unter dem Lindenbaum, dessen Stamm im Garten der Nachbarn Wurzeln geschlagen hat, doch Grenzen kennt er nicht, für ihn gehört alles zusammen. Während Belami weiter auf Spurensuche ist, betrachte ich die weitverzweigten Äste und staune wieder einmal über die Fähigkeiten der Natur: Ein Baum wie dieser kann mit seinen 500.000 Blättern an einem einzigen Tag 20 Kilogramm Kohlendioxid binden.

Jetzt hat das Morgenkonzert der Vögel voll eingesetzt. Die Natur hat eine eminent schützende Wirkung auf unsere Gesundheit. Der Gesang ist nun viel besser zu vernehmen als noch vor einigen Jahren, als er noch vom Verkehrslärm übertönt wurde. Seit dem Aus für fossil betriebene Fahrzeuge hat sich die Zahl der Autos auf ein Drittel verringert und die verbliebenen Fahrzeuge mit E-Antrieben sind leise. Pendelfahrten wurden deutlich weniger, Tempo 30 gilt mit Ausnahme der Durchzugsstraßen in der gesamten Stadt, das hat den Verkehrslärm noch einmal halbiert.

Wir treten durch das alte, quietschende Gartentor auf die Straße, die im Vergleich zu meiner Übersiedlung in die Stadt vor zwanzig Jahren nicht mehr wiederzuerkennen ist. Aus einer breiten, dunklen Asphaltfläche, die an heißen Tagen den Stadtteil aufgeheizt hat, wurde in den vergangenen zehn Jahren ein blauweißrotgrüngelbes Band. Wenn ich stadteinwärts blicke, sehe ich nur mehr eine Fahrbahn – auch hier wurde, wie auf den meisten Straßen, eine platzsparende Einbahnregelung eingeführt. Der Belag ist beinahe weiß, damit sich die Straße weniger aufheizt. Rechts davon erstreckt sich ein breiter Boulevard aus hellen Granitpflastersteinen, die sich ebenfalls nicht so stark erhitzen. In den Ritzen dazwischen gedeiht Gras, auf diese Weise kann Wasser versickern. Alle paar Meter steht ein großer, schattenspendender Baum. Lange wurde geforscht, welche Arten am besten geeignet sind, um in der zunehmenden Hitze der Stadt zu bestehen. Jetzt wachsen vor allem Ahorne, Zerreichen, Schnurbäume, Stadtulmen, Zedern und Douglasien in der neuen Allee, dazwischen auch Obstbäume. In ihrem Schatten laden am breiten Gehsteig Bänke, kleine Sitzgruppen, Wasserspender und Gastgärten zum Verweilen ein. Dazwischen wurden „Grüne Würfel“ errichtet, 25 Quadratmeter große, mobile Quader aus Holz, gleichsam Holzrahmen mit offenen Seiten, die mit Kletterpflanzen bewachsen sind. Die Würfel wurden einzeln oder an Stellen mit ausreichendem Platz in Gruppen aufgebaut, um das Mikroklima zu verbessern. Darin stehen Tische und Sessel, Liegestühle, Sandkisten und Schachspiele. Wo sich früher Autokolonnen stauten, befindet sich heute ein angenehmer, gekühlter Lebensraum – ein gewaltiger Zugewinn an Lebensqualität für uns alle.

Links von der einzigen verbliebenen Fahrbahn verlaufen wie seit vielen Jahrzehnten die Gleise der Straßenbahn, zwischen den Schienen liegen blaue Solarmodule der neuen, effizienteren und stabileren Generation und erzeugen Strom. Vor ein paar Jahren hat die Konstruktion noch futuristisch angemutet,...