Ein 68er auf Spurensuche

Ein 68er auf Spurensuche

von: Michael Hesseler

neobooks Self-Publishing, 2024

ISBN: 9783756574759 , 294 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Ein 68er auf Spurensuche


 

Monologe und Gespräche zwischen einem Vater und einem Sohn


Zeit seines Lebens hat Pauls Vater vor dem jeweils ausgesuchten Publikum, das ihm hilflos ausgesetzt war, Endlos-Monologe über seine Erlebnisse im Krieg und in der Nachkriegszeit gehalten. Zufällig anwesende Familienangehörige und Freunde seines pubertierenden und postpubertierenden Sohns mussten dem Wortschwall mit offenen Mündern über sich ergehen lassen. Eigene Redebeiträge oder Widerspruch bremsten den Redefluss, anerkennende Fragen hielten ihn in Gang. Das war dem Sohn schon peinlich genug. Verzerrte aber Schnaps die Worte des Vaters zum Stammeln und demütigte er vor dem jeweiligen Publikum seinen gebildeten Sohn, hasste der Sohn den Vater. Dabei war der Vater kein mickriger Zwerg, den sich Spieler hätten zuwerfen können. Er litt nur unter Minderwertigkeitsgefühlen. Je älter Paul wur-de, desto weniger schonte Paul seinen Erzeuger und widersprach ihm. Dann gerieten sie immer mehr aneinander und schrien sich an. Außerdem verwässerten die angeberisch-sarkastische Vortragsweise und die stereotypen Wiederholungen den humorvollen Atem der einmaligen Geschichten über die kleinen, ihr Leben einsetzenden Leute zu schlechten Witzen und schalem Klamauk von Comedians. Da die bemitleidenswerten Zuhörer kein „Datasuit“ im „Cyber Space“ trugen, konnten sie nicht mit einem elektronischen Handschuh die passende virtuelle Wahrheit aus der verwaschenen Darbietung des Betrunkenen ertasten. Trotz der Grenzüberschreitung zu völlig anderen Geschichten war es dem Sohn gelungen, die vom Vater gewollte eigentliche Substanz aus seinen Erinnerungen hervorzuzaubern und sie mit einem gehörigen Schuss Wahrheitsphantasie zu würzen. Das wenigstens hatte der Sohn vom Vater gelernt, ohne dass sie diese Gemeinsamkeit geeint hätte.

Fehlte das Publikum, führten sie offene friedliche Dialoge über die genießbaren oder wurmstichigen Früchte des menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Kulturlandschaft. Weil sie „Im Westen Nichts Neues“ gelesen hatten, ritten sie auf den allgemeinen Konstruktionsprinzipien sogenannter Verteidigungskriege herum. Die Kriegsentscheider und Kriegsauftraggeber befehlen, aus einer sicheren, warmen Position fern der Front, den Kriegsauftragsnehmern, also den einfachen Soldaten, unter Einsatz ihres Lebens andere Menschen, sogenannte Feinde, zu töten. Die Verantwortlichen oben, zu denen vor allem Politiker zählen, reden den einfachen Soldaten zu diesem abartigen Zweck eine zynische Botschaft ein. Es sei für jeden eine Ehre, im Namen einer mysteriösen höheren Sache, eines Wir, in den Krieg zu ziehen, sich an Geist und Körper verstümmeln und auf dem Schlachtfeld abschlachten zu lassen. Da sich die Verantwortlichen im Gegensatz zu Napoleon aus dem direkten Kriegsgetümmel heraushalten, wissen sie nichts über den langen Leidensweg oder das kurze Ende, über zerschossene Gesichter und Glieder, Amputationen, von Hirn entleerte Schädel, Vegetieren in Gräben unter Ratten, vor Schweiß und Dreck stinkende Körper, herausquellenden Gedärmen, Panikattacken, Schlaflosigkeit, Hunger und Durst, Durchfallerkrankungen bei Kriegsgetöse als Begleitmusik. Gedenktafeln oder Grabsteine beschönigen den nutzlosen Tod der einfachen Soldaten, sie verheimlichen beispielsweise, dass sie in einer vorgeblichen Feuerpause beim Kacken von einer Granate zerrissen worden sind. Die Denkmäler stilisieren die Zerbrochenen zu Gefallenen hoch: Mit zwei gekreuzten Schwertern, nicht mit einem Kreuz vor jedem Namen. Die für ihren Tod verantwortlichen Entscheider fehlen auf den Denkmälern. Sie bleiben gesichtslos, es sei denn, manche Kasernen sind nach den gut genährten Feigen im Abseits benannt. Die Geschichtsschulbücher schwärmen nur von den großen Feldherren, also ob mit Kriegen etwas Anderes als gegenseitiger Hass zu gewinnen wäre. Bald gibt es vielleicht Feldfrauen oder Menschen mit allen sexuellen Orientierungen. Pauls Vater wusste, wovon er redete. Die daheimgebliebenen elitären Bonzen dieser Herrenrasse, von denen nicht wenige nach dem Krieg über Nacht zu Demokraten mutiert sind und sich auf neuen Karrierepfaden in der Sonne rekeln durften, zählten damals die toten einfachen Soldaten durch und feierten mit lautem Freudengeschrei das Ergebnis wie einen Sieg. Dabei waren die Ritzen der gutbürgerlichen Stube der Herrschaften gut verleimt, um den Verwesungsgeruch draußen zu halten. Frank gehörte zu dieser verlorenen Generation, die die herrschenden Psychopathen oben als Menschenmaterial, begleitet von kollektiven Siegesgesängen, in den Krieg geschickt und so am Leben gehindert hatten. Viele der sogenannten Kameraden von Frank, die unter Kriegstraumata litten, verschweigen und verdrängten bis zur Unheilbarkeit diesen Wahnsinn. Sie wollten eine Familie gründen und dafür arbeiten. Das würde die Grundlage sein, um das gleiche Spiel von vorne zu beginnen. Das wollte Frank verhindern. Dass jeder Krieg sinnlos ist, wollte er seinem Sohn weitergeben.

Diese kritische Haltung einte die beiden Querbeet-Denker. Bei ihren spontanen Anfällen hockten sie sich bei Bier, Wein oder „Café au Lait“ und beim Paffen ihrer verteerten Pfeifen aus Marcampelle oder Hautes Grolles in weichen gemütlichen Ledersofas gegenüber. Assoziationen beim Lesen einer Überschrift in Blödzeitungen konnten dann ebenso Gespräche auslösen wie die Nachrichten, ein Tatort oder der internationale Mittagsschoppen. In einer reinigenden Automatik spulten sich dann die Dialoge ab, über abgestürzte Starfighter, die Erhöhung des Verteidigungshaushalts oder mögliche sexuelle Übergriffe älterer Wehrdienstleistender auf Rekruten im (damals noch) frauenfreien Ghetto Bundeswehr. Heute müssen sich wohl weibliche Soldaten vor den Übergriffen einiger ihrer männlichen Kameraden schützen. Kommen dann noch die Gleichgeschlechtlichen, Diversen, Transfrauen, Transmänner und Non-Binären (alles besondere Minderheiten) ins Spiel, gibt es nur eins: Das Handtuch der Überforderung werfen. Oder würde ein neues Bundesministerium „Sexuelle Orientierung“, geleitet von einem anderswo unterforderten Kulturverantwortlichen, helfen? Wie steht es aber mit der möglichen Diskriminierung der Mehrheit! Vielleicht sollten in Pässen die Angaben über das Geschlecht fehlen, weil eh alle Menschen gleich sind. Vielleicht könnten schon Lehrer am Beispiel der medialen Militarisierung von politischen Meinungen lernen, zwischen Toleranz und Akzeptanz zu unterscheiden. Also nicht das Durchzählen von Toten zum Maßstab zu erheben, sondern Krieg zum No-Go zu erklären. Über jeden Wahnsinn philosophierten Vater und Sohn in vorausschauender Weisheit, während sie ihre Muße, eine fundamentale, oft vergessene Errungenschaft, genossen. Auf ihren Flügeln konnten sie sich zu Menschen mit kreativen Höchstleistungen und zu einer weniger belastenden Kritik an den Verhältnissen hochschwingen. Aber es musste für die beiden politisch mündigen Bürger fernab des Mainstreams deutscher Untertanen-Mentalität, Arbeitsseele und Schwarmdummheit sein. Sie glaubten, diese Fehlhaltung könnte nur ohne menschliche Würde funktionieren. Dass einige deutsche Geistesarbeiter den totgeglaubten Ansatz „Arbeit als Mühsal“ aus der historischen Klamottenkiste ausgegraben und „La Paresse“ anstatt mit Muße mit Faulheit übersetzt hatten, amüsierte sie. Hin und wieder schwiegen Vater und Sohn und warfen sich nur bezeichnende Blicke zu. Manchmal verfielen sie trotz der sich anbahnenden postmodernen Hektik in eine ungewöhnliche Schockstarre der Langsamkeit. Jeder ging dann in sich und hangelte sich wie ein Faultier an seiner individuellen Wahrheit entlang. Zur Verfremdung hörten beide Santana, den auch der unmusikalische Frank liebte, oder starrten ohne innere Anteilnahme in die laufende Glotze. Die Sendungen der jeweils laufenden (Wasch) Programme von ARD oder ZDF (mehr gab es zunächst nicht) wirkten nur als ablenkende Stimulanzien für befreienden Gedankenergüsse. Aber irgendwann fanden sie wieder zurück zum Sprechen, Ihre enttabuisierende Kritik an der privilegierten Machtelite explodierte in einer Art radikal-demokratischem Feuerwerk. Heute würde das nicht mehr funktionieren, weil die unzähligen Privatsender die Zuschauer mit Werbung ohne Informationsgehalt vollscheißen, ohne sie um Erlaubnis gefragt zu haben. Die Inhalte sind nur das Transportmittel der Werbung, ansonsten stören sie. Das wusste auch der Inhaber der Blödzeitung. Er hätte Propagandaminister werden sollen. Vielleicht sollte man die Inhalte im TV weglassen und die Werbung gleich an einem Stück zeigen. Die social media haben die Belanglosigkeit der Kommunikation und ihre oberflächliche Banalität nur verschlimmbessert, auch dehnbarer für Werbung und Profit mit Daten geformt.

In zwei Dingen waren sich Vater und Sohn immer einig. Linke und rechte totalitäre Systeme sind, da sie die individuelle menschliche Würde mit Füßen treten und daher demokratielos sind, nur miteinander verfeindete Brüder, Kinder des gleichen Verbrechens an der Menschheit und Menschlichkeit. Transportmittel ist die unausrottbare kollektive Dummheit, von der schon Bonhoeffer im KZ geschrieben hat. Erst schränken die politischen Führer oder Rädelsführer beider Systeme mit grausamen Methoden die individuelle Freiheit ein, dann enthaupten sie die individuelle Persönlichkeit. Das ist ein kollektives Gewaltmuster. Das möchte die NSAFD, für die die Nazi-Zeit nur ein unwichtiger Fliegenschiss in der ansonsten glorreichen deutschen Geschichte ist, heute gern auf Flüchtlinge, Ausländer, denkende und andersdenkende Menschen anwenden: auf alle, die anders im Sinne von nicht-deutsch sein sollen. Andere nationalistische Hardliner entwickeln Obergrenzen, abgeleitet von denen für Katzen, Hunde, Zierfische oder den Sexualverkehr der katholischen Landjugend. Verschwörungsideologen,...