Fremde Horizonte

Fremde Horizonte

von: Henny Vosberg

epubli, 2024

ISBN: 9783758492624 , 125 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 2,99 EUR

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Fremde Horizonte


 

  • Gamma


 

Es war schon dunkel, als der Ermittler mit dem Geist das Bürogebäude verließ. Nur noch wenige Kutschen huschten ratternd über das Kopfsteinpflaster, Nachtwächter zündeten die Gaslaternen an, ein Luftschiff zog leuchtend über den Himmel. Wolken verdunkelten den Mond, und Horatio kam die Finsternis ganz gelegen. Er war ein angesehener Mann, und auch, wenn jeder wusste, dass er bei seiner Arbeit keinen Unterschied zwischen Lebenden und Verblichenen machte, so wollte er nicht unbedingt mit einer Geisterfrau zusammen spazieren gehend gesehen werden. Das hätte Getuschel und Gerede geben können.

Sie liefen hinunter ins Hafenquartier, spazierten durch düstere und schmale Gassen, bis sie auf einem großen Platz angelangten, der direkt mit der Mole verbunden war.

»Wo führen Sie mich eigentlich hin?«

»Dort.« Der Finger der Frau zeigte in die Richtung einer alten, verfallenen Villa. Der Putz bröckelte bereits von den Wänden, die Fensterläden hingen schief und verrotteten, das Dach war eingefallen. Kein Ort für Lebende. Das Haus war schon vor langer Zeit verlassen worden, da es baufällig geworden war. Solche Ruinen wurden bevorzugt von Verblichenen benutzt, da diese keine intakten Wände brauchten und auch keinen Schaden zu befürchten hatten, falls Schindeln durch das marode Dach brachen. Nur wenige teilten sich Häuser mit den Lebenden, die ihnen keinesfalls über den Weg trauten, solange das stille Örtchen nicht mit Wänden aus Geisterlicht umgeben war. Dieser Ort jedoch war anders. Er jagte dem Ermittler einen noch größeren Schauer über den Rücken als der Besuch in der Irrenanstalt, den er für seinen letzten Fall erneut hatte tätigen müssen. 

Horatio schluckte, und sein Schnauzbart zitterte, was verriet, dass seine Zähne klappern mussten.

»Das Spukhaus?« fragte er ungläubig.

»Ich sagte doch, dass mir sonst keiner zum Ort des Geschehens folgen wollte.«

»Aber wie kamen Sie ausgerechnet hierher?«

»Ich wusste, dass meine Tochter hier war. Sie verabredete sich immer heimlich mit einem mir Unbekannten.«

»Was denn — hier?«

Der Ermittler strich sich durch die Koteletten und schniefte. Er war skeptisch. Das alles roch für ihn nach einer Falle, und er war sich nicht sicher, ob er wirklich herausfinden wollte, was für ein Spiel hier getrieben würde.

»Bitte...«, flüsterte der Geist und seufzte. »Bitte.«

Horatio stieß seinen Gehstock auf das Straßenpflaster und nickte energisch. »Nun gut. Ich seh’ mir das mal an.«

Das sogenannte Spukhaus war in diesem Quartier so etwas wie die letzte Station für verlorene Existenzen, eine Sammelstelle für die alten Geister, die über all die Zeiten hinweg ihren Verstand verloren hatten und dort ihr trauriges Dasein fristeten. Dieser Tummelplatz des Elends war zudem für jüngere Geister genau der richtige Platz, um unerkannt heimliche Treffen zu arrangieren. Hier stellte niemand Fragen. 

»Wie heißt Ihre Tochter?« fragte der Ermittler und versuchte, mit dem Smalltalk sein Unbehagen zu überspielen.

»Elsa.«

»Wie heißen Sie eigentlich, wenn ich fragen darf?«

Der Geist drehte sich zu ihm. »Frau Kronberg.«

Horatio nickte und hob zum Gruß seinen Zylinder leicht an.

»...Hannah«, fügte sie unsicher lächelnd hinzu.

»Ein schöner Name. Und Ihr... ähm... Gatte?«

Sie seufzte, und Horatio fiel in diesem Moment zum ersten Mal bewusst auf, dass Geister erstaunlich oft seufzten.

»Ich lebe getrennt. Mein ehemaliger Gatte sitzt noch lebend im Heim des Niedermoorgefängnisses und wird dort wahrscheinlich noch ewig die Wärter und seine Pflegerin quälen und triezen. Wenn Sie es genau wissen wollen, ich habe kein Interesse daran, auf ihn und seinen Tod zu warten. Unsere Ehe war schon im Leben nicht glücklich. Immerhin war er es, der mir den Strick um den Hals gelegt und zugezogen hat. Und das vor den Augen unserer Tochter.«

Horatio schluckte und griff sich unwillkürlich an den Hals. »Hat er sie auch...?«

»Nein, Elsa starb bei einem Unfall mit einer Kutsche, die Pferde gingen durch.« Mit diesen Worten verschwand Hannah durch das Eingangsportal.

Der Ermittler öffnete die Tür unter lautem Knarren, und ein muffiger Geruch schlug ihm entgegen. Wie gut, dass Geister keinen Geruchssinn mehr haben, dachte er und zog ein Tuch aus der Tasche seines noblen weinroten Gehrocks, um es sich vor die Nase zu halten.

Die einst vornehme Villa war leer, die letzten Bewohner hatten ihr ganzes Hab und Gut mitgenommen, als sie das Haus verlassen hatten. Nur die Uhr auf dem Kamin war noch da, eine milde — wenngleich auch zynische — Gabe an die nachfolgenden Geisterbewohner. Das Innere war dunkel und verfallen, sogar die zahlreichen Geister glommen an diesem traurigen Ort nur noch schwach.

All diese verlorenen Seelen, seufzend, heulend. Sie hockten vertrocknet in den Ecken und starrten die Wände an. Einige wippten unaufhörlich vor und zurück, andere hingen einfach in der Luft, wieder andere schwebten hin und her, immer und immer wieder. Einige wenige rasten schreiend durch die Etagen und Wände. Ihr jämmerliches Äußeres glich faulem Dörrobst und verwelktem Kraut. Sie waren überall und saßen übereinander, ineinander verknäuelt, wie aufeinander geschobene Haufen grau-dreckiger Tücher, sodass man die einzelnen Geister kaum erkennen und auseinanderhalten konnte und noch nicht einmal zu schätzen vermochte, wie viele dort zu einer Traube vereint saßen. Der Wahnsinn vieler Jahrhunderte. Niemand kümmerte sich um sie — wer wollte schon mit solchen uralten, gebrochenen Kreaturen zu tun haben, ganz gleich, wie ehrenwert sie auch zu Lebzeiten gewesen sein mochten. Selbst Könige endeten so.

»Kommen Sie«, bat ihn die Frau, als ein alter Geist kreischend an ihm vorbeirauschte.

Horatio griff sich ans Ohr. »Aua, das war laut.«

Hannah schwebte die Treppe hinauf, und Horatio hatte große Mühe, ihr über die morschen Stufen zu folgen. Einige brachen unter seinen Tritten sogar ein, und das Geräusch erschreckte ein Häufchen Geister, die sich über dem Geländer zusammengeballt hatten.

Auf der Empore angekommen, wies Hannah ihm den Weg zu einer Tür. Sie konnte die Türe nicht für ihn öffnen, da nichts in dieser Villa mit Geisterlicht verkleidet oder bestrichen war. 

Horatio trat ein und fand einen leeren Raum vor. Wozu er einst benutzt worden war, konnte man nicht mehr erkennen. Nur in einer Ecke stand ein gekachelter Ofen mit hübschen Zierfliesen, und zerschlissene Vorhänge wehten vor dem verfallenen Fenster.

In der Mitte des Zimmers lag auf dem Boden ein Geist. Die gräulichen Schemen waren gefesselt und umschlossen von einem golden schimmernden Seil, das offensichtlich mit Geisterlicht behandelt worden war. Die Fesseln verhinderten, dass der Geist einfach durch den Boden oder die Decke schweben konnte und hielten das nebelige Gebilde in diesem Raum fest. 

»Ach herrje...«, entfuhr es Horatio. Vorsichtig trat er an den Geist heran und betrachtete ihn genau.

Es war der Geist eines jungen Mädchens, sie mochte vielleicht im Alter von zarten 18 Jahren zum ersten Mal gestorben sein. Ihr Leuchten war vollkommen erloschen, nur das Seil und das Glimmen der Geisterfrau ließen den Ermittler die bizarre Szenerie erkennen. Elsas Geisterkörper war zu verschwommenen Schemen verwischt. Es wirkte, als begönne sich ihre gesamte Struktur aufzulösen, zu verwesen und zu vergehen. Es gab keinen Zweifel — der Geist war tot. Wirklich tot. Jemand hatte eine bereits Verstorbene endgültig ins Ableben geschickt.

»Wie ist so etwas möglich?« Horatio schüttelte den Kopf. »Wie kann man eine Tote umbringen? Das geht doch gar nicht.«

Hannah fing im Hintergrund wieder leise an zu schluchzen.

Horatio blickte sich um. In diesem Raum war nichts. Nichts außer abgestandener Luft und Kälte.

»Jetzt weiß ich es...«, flüsterte der Ermittler.

»Was denn?«

»Das, was mir hier so merkwürdig vorkam. Was mich die ganze Zeit über schaudern ließ, seit ich den Raum betrat. Ist es Ihnen nicht aufgefallen?«

»Nein, was?«

»Niemand sonst ist hier, hier in diesem Raum. Die Verblichenen sind überall, aber niemand ist hier.«

Er glaubte, Hannah schlucken zu hören. »Was mag das bedeuten?«

Horatio blickte sich um, und ihm wurde noch unbehaglicher als zuvor. »Ich weiß es nicht. Aber hier stimmt etwas nicht. Wenn ich es nicht besser wüsste und nicht ein sehr rationaler Mensch wäre, würde ich mich dazu hinreißen lassen zu sagen, etwas Übernatürliches geht hier vor. Aber... es wird eine Erklärung für all das geben. Und ich werde sie finden.«

Seine Füße in den vornehmen Lederschuhen strichen über den Dielenboden. Im Staub der vielen Jahre fanden sich Abdrücke. Jemand war hier gewesen, es gab diffuse Spuren von Schuhen, die sich durch den Raum bewegt hatten. Kleine staubfreie Stellen auf dem schmutzigen Boden zeugten von einem oder mehreren schweren Gegenständen, die hier vor Kurzem gestanden haben mussten. Doch nichts von alledem war aussagekräftig genug, um weitere Hinweise zu liefern. Er ging hinüber zum Ofen, öffnete die Tür und blickte hinein.

»Hoppla!«

»Haben Sie etwas gefunden, Herr Ferroulo?«

Mit seinem Tuch griff er in den Ofen und holte vorsichtig etwas Asche heraus.

»Ja, hier. Ich hatte gehofft, eine Waffe oder sonstige Spur zu finden, aber stattdessen fand ich dies: Die Asche ist durchsetzt mit zu Pulver zerstoßenem...