Ich lebe mit meiner Trauer - Das Kaleidoskop des Trauerns für Trauernde

Ich lebe mit meiner Trauer - Das Kaleidoskop des Trauerns für Trauernde

von: Chris Paul

Gütersloher Verlagshaus, 2021

ISBN: 9783641263355 , 272 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 17,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Ich lebe mit meiner Trauer - Das Kaleidoskop des Trauerns für Trauernde


 

Eine besondere Zeit

Die Zeit zwischen Tod und Bestattung und noch einige Wochen darüber hinaus ist eine besondere Zeit. In vielen Religionen gelten die ersten 40 Tage – oder die ersten sechs Wochen – als die Zeit, in der die Seelen der Verstorbenen sich immer weiter von den Lebenden entfernen. Spirituelle Erfahrungen können jedoch hinter Erledigungen zurückbleiben. Rund um die Trauerfeier muss sehr viel organisiert werden, das steht für die meisten Trauernden in dieser Zeit im Vordergrund.

Die »stabilen Personen« und »praktischen UnterstützerInnen«, die schon in den Sterbestunden wichtige Hilfe geleistet haben, sind weiterhin eine wichtige Stütze. Zum Glück erweitert sich der Kreis der Menschen, die dafür in Frage kommen. Freunde, Bekannte, Nachbarn und Familienangehörige können als UnterstützerInnen abwechselnd konkrete Handreichungen und einzelne Aufgaben übernehmen. Sie gehören aber auch zu denen, die stundenweise als »stabile Person« für Sie da sind. Das heißt, dass sie, ohne von eigenen Gefühlen irritiert zu sein, Sicherheit und Geborgenheit vermitteln können. Idealerweise gibt es UnterstützerInnen für jedes einzelne Familienmitglied. Für Kinder und Jugendliche sind das auch Freunde, die den normalen Alltag auf Wunsch mit ihnen weiterleben. »Stabile Personen«, die im Rahmen ihres Berufes auf diese extremen Lebenssituationen vorbereitet wurden, sind die SeelsorgerInnen, die Redner und Musiker, die Floristen und die GestalterInnen von Traueranzeigen, aber vor allem die Mitarbeitenden der Bestattungshäuser. Sie sollten nicht einengen oder bevormunden, sondern unterstützen und ermutigen.

Deshalb ist vor allem die Wahl des Bestattungsinstituts etwas, das man nicht dem Zufall überlassen sollte. In vielen Gegenden Deutschlands (auch außerhalb von Großstädten) arbeiten heute moderne BestatterInnen, die Wert darauf legen, den Hinterbliebenen möglichst viele Beteiligungsmöglichkeiten einzuräumen.

Meine Kollegin Ruth-Marijke Smeding hat den Begriff »Schleusenzeit«® (mit freundlicher Genehmigung der Autorin) geprägt für die Zeit zwischen Tod und Bestattung. Sie hat darauf hingewiesen, wie wichtig MitarbeiterInnen von Bestattungshäusern, Pfarrer und freie RednerInnen sind. Sie nennt sie »Schleusenwärter«®, die wie Lotsen auf der ersten kurzen Strecke des Trauerweges arbeiten und dabei helfen, den Kurs zu halten. Dazu gehört ein tiefer Respekt vor dem Leben UND dem Tod. Schleusenwärter, die ungeduldig und bevormundend sind, machen ihre Arbeit nicht gut. Von solchen Menschen und Firmen kann man sich distanzieren.

Die Zeit zwischen Tod und Bestattung erleben viele Trauernde als Zeit des Funktionierens, in der es vor allem um das »Überleben« geht. In allem Organisieren und Erledigen nimmt man kaum wahr, dass man auch in den anderen Bereichen des Trauerprozesses bereits wichtige Erfahrungen macht. Vor allem das Verstehen der »Wirklichkeit« eines Todes steht im Mittelpunkt dieser Übergangszeit. »Gefühle« dürfen gezeigt werden oder sind hinter der inneren Schutzwand verborgen. Die Tragfähigkeit des sozialen Netzes erweist sich – oder auch nicht. Viele Erinnerungen an den Verstorbenen werden ausgetauscht, und ein erster Versuch, das ganz Besondere, Charakteristische an diesem Menschen zu formulieren, geschieht in der Ansprache der Beerdigungs- oder Abschiedsfeier.

Trauerfacette Überleben

Funktionieren – Erledigen

Der Tod des Anderen und das eigene Überleben ohne ihn/sie sind so kurz nach dem Sterben noch ganz neu, ungewohnt, vielleicht auch schockierend. Das eigene Überleben kann sich bedroht anfühlen durch Trennung und Tod – so sehr, dass alle weiteren Trauerfacetten erst dann Raum bekommen, wenn das Überleben gesichert ist. Aber auch wenn man sicher ist, diese Situation überleben zu können, ist der Tod eines nahen Menschen fast immer eine Ausnahmesituation, die beunruhigt und herausfordert. Vieles ist anders als zuvor, und viele bisher praktizierte Wege, sich zu beruhigen und mit Krisen umzugehen, funktionieren in diesem Moment nicht – weil sie häufig mit dem Verstorbenen zu tun hatten. Nach einem Tod greifen wir deshalb oft auf sehr alte Strategien zurück, mit denen wir uns schon früher, als Kind und Jugendlicher, beruhigt oder in Sicherheit gebracht haben. Für die aktuelle Situation sind sie manchmal unpassend, trotzdem greift man, ohne darüber nachzudenken, auf sie zurück. Sie vermitteln ein kleines Stück Sicherheit mitten in dem unsicheren neuen Lebensabschnitt. Nach den Überlebensstrategien der ersten Stunden braucht es nun Überlebens-Wege, die auch mehrere Wochen lang tragen. Im Bild des Trauermarathons heißt das: Nach dem Start ist nun die erste Strecke zu bewältigen, es geht jetzt um das Durchhalten eines längeren Zeitraums.

Überlebensstrategien

Überlebensstrategien können in den ersten Wochen ganz unterschiedlich aussehen, hier eine unvollständige Auswahl:

  • Ohne Pause alles abarbeiten, was zu tun ist.
  • Sich abschotten und zurückziehen, die sich verändernde Welt einfach nicht beachten.
  • So tun, als wäre gar nichts geschehen.
  • Sich mit Medikamenten, Alkohol oder Drogen betäuben.
  • Zusammenbruch.
  • Soviel Normalität aufrechterhalten wie nur möglich. Vor allem Kinder und Jugendliche überleben mithilfe der gewohnten Routinen. Sie möchten genauso essen, spielen, zu Bett gehen wie zuvor.
  • Unterstützung annehmen, sich helfen lassen.
  • Unterstützung suchen.
  • Sich nicht alles aus der Hand nehmen lassen. Mitentscheiden. Mitgestalten.
  • Aggressiv sein, streiten.
  • Unbeugsam sein, auf dem eigenen Recht bestehen.

Jede dieser Strategien hilft dem, der sie anwendet, beim Überleben. Manche dieser Strategien machen anderen das Überleben schwerer. Vor allem Aggressionen, totaler Rückzug oder Zusammenbruch lösen bei Familienmitgliedern und Freunden große Sorgen aus. Die folgenden Trittsteine für das eigene Überleben helfen, bei sich und dem eigenen Trauerweg zu bleiben. Danach folgen Trittsteine für das Zusammenbleiben und gemeinsame Überleben als Familie oder Freundeskreis. Diese Reihenfolge gilt für den gesamten weiteren Trauerweg: Man muss erst für sich selbst sorgen, damit man für die anderen da sein kann!

Trittsteine

  • Menschen, die geduldig und zuverlässig da sind, ohne Vorschriften zu machen.
  • Menschen, die nach Ihren Bedürfnissen fragen und vieles möglich machen.
  • Menschen, die Ihnen nur das abnehmen, was Sie selbst wirklich nicht tun möchten.
  • Menschen, die bei Ihnen bleiben, auch in der Nacht, wenn Sie das brauchen.
  • Für den Körper: genug trinken, aber möglichst wenig Kaffee und Alkohol.
  • Für den Körper: essen, soweit es möglich ist – am besten etwas Warmes und Nährendes.
  • Zur Beruhigung und Stabilisierung: Kleider, Gegenstände, Orte, die als angenehm, vielleicht sogar tröstend wahrgenommen werden.
  • Zur Beruhigung und Stabilisierung: Wenn Sie damit vertraut sind – Atemübungen zur Beruhigung, einfache Stabilisierungsübungen aus dem Yoga, Chi Gong oder Tai Chi. Gebet oder Meditation.
  • Zur Beruhigung: pflanzliche Beruhigungsmittel als Tee oder Dragees (Baldrian, Hopfen, Melisse, Lavendel), beruhigende und stabilisierende Gerüche (Lavendel), Bachblüten-Notfalltropfen.
  • Zur Beruhigung in Ausnahmefällen: verschreibungspflichtige Medikamente als Tablette oder Spritze.

Trittsteine für das gemeinsame Überleben in der Familie

  • Geduld miteinander!
  • Toleranz für die unterschiedlichen Überlebensstrategien statt Besserwisserei.
  • Viel Unterstützung annehmen von »stabilen Personen« und »praktischen UnterstützerInnen« aus dem Freundeskreis, der entfernteren Verwandtschaft und von beruflichen Unterstützern.
  • Möglichst viele Alltagsroutinen für die Kinder der Familie, dabei können »stabile Menschen« und »praktische UnterstützerInnen« helfen.
  • Zusammensein, möglichst niemanden wegschicken, vor allem nicht die Kinder.
  • Austausch, so wie er möglich ist – wenn Reden nicht geht, sind auch Blicke, Umarmungen, einfaches Beieinandersein ausreichend.
  • Gemeinsame Entscheidungen über das, was zu erledigen ist. Alle Bedürfnisse berücksichtigen, auch die der Kinder und Jugendlichen.

Fachliche Unterstützung

Die Mitarbeitenden des Bestattungshauses sind Ihre wichtigsten Ansprechpartner in den ersten Wochen. Es ist hilfreich, ein Unternehmen zu wählen, das Wert auf Unterstützung und Gestaltungsspielräume legt.

Der Redner oder der/die PfarrerIn bei der Beisetzung oder Abschiedsfeier kann eine wichtige Hilfe sein, um Erinnerungen zu ordnen und einen würdevollen Abschied zu gestalten.

Floristen, MusikerInnen, Anzeigengestalter und Texter stellen ihre Kompetenzen zur Verfügung.

In der Hausärztlichen Praxis können Sie sich bei Bedarf einige Tage arbeitsunfähig schreiben lassen. Wenn Sie unter starker Unruhe oder Schlafstörungen leiden und fürchten, an Ihren starken Gefühlen zu zerbrechen, kann Ihnen hier auch ein Beruhigungsmittel verschrieben werden. Bitte bedenken Sie, dass Psychopharmaka den Schmerz des Trauerprozess nur für eine Weile dämpfen können, als »Nothelfer für alle Fälle« sind sie geeignet, für eine dauerhafte Trauerbewältigung nicht.

Eine qualifizierte Trauerbegleitung kann Ihnen mit einem Telefongespräch oder einer einmaligen Beratungsstunde schon in dieser Zeit...