Die Geschichte einer unerhörten Frau

Die Geschichte einer unerhörten Frau

von: Hanne Hippe

Goldmann, 2021

ISBN: 9783641260606 , 432 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 15,99 EUR

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Die Geschichte einer unerhörten Frau


 

Köln, 10. April 1960


Gussy atmete tief aus und überprüfte mit einer geübten kleinen Verrenkung von Kopf und Oberkörper den Sitz der neuen Nylonstrümpfe an ihren Waden. Die Nähte saßen tadellos. Dann griff sie sich an den Hinterkopf. Keine Nadel ragte hervor. Der falsche Dutt, der die Form und Farbe einer dicken Blutwurst hatte, saß genau an der Stelle an ihrem Hinterkopf, wo sie ihn vor einer halben Stunde mithilfe der zwei Kippspiegel ihrer Frisierkommode angeheftet hatte. Sie hatte ihre feinen schwarzen Haare darübergezogen.

Gussy trug ihr gutes graumeliertes Schneiderkostüm, das noch aus der Zeit vor der Scheidung stammte, und merkte, dass sie beim Betreten des Schulgebäudes nun doch ein wenig nervös wurde.

Vor vier Tagen war sie mit ihren beiden Kindern von Frankfurt am Main hierher an den westlichen Rand von Köln gezogen, in eins der zahlreichen Neubaugebiete, die statt Zuckerrüben auf den Äckern wie Pilze aus dem Boden schossen.

Heute wollte sie ihre achtjährige Tochter Eva in der zweiten Volksschulklasse anmelden. Die dafür erforderlichen Papiere hatte sie in ihre schicke Handtasche gesteckt, die Evchen »das falsche Krokodil« nannte. Vorher hatte sie sich bei der Nachbarin mit dem Säugling erkundigt, ob sie wisse, wo die zuständige Schule für das Kind liege. Das sei die Friedensschule in der Ringstraße, hatte die erklärt und ihr die genaue Lage beschrieben.

»Es sind nur knapp zehn Minuten zu Fuß«, hatte sie ihr noch hinterhergerufen.

Das Kind würde es nicht sehr weit haben. Das fand Gussy beruhigend. Sie kannte Köln nicht, und der Gedanke, dass Evchen in der fremden Stadt einen weiten Schulweg allein zurücklegen müsse, war ihr unangenehm.

Die Frau, der sie am Morgen auf der Treppe begegnet war und die einen polnischen Nachnamen trug, war bis jetzt ihre einzige Nachbarin in dem unverputzten Zwölfparteienhaus. Die anderen Wohnungen standen leer. Aber noch waren ja auch nicht alle Handwerker verschwunden, und man musste über eine schmale Holzlatte balancieren, um trockenen und sauberen Fußes zur Eingangstür des dreistöckigen Gebäudes zu gelangen. Gussys Kinder fanden das lustig. Sie nicht.

Wenn sie abends zu Bett ging, machte sie der Gedanke nervös, dass sie und die Kinder mit der jungen Nachbarin in dem großen Haus ganz allein waren. Deren Ehemann war fast immer auf Montage, wie sie erfahren hatte, und jeden Monat nur wenige Tage zu Hause.

Gussy wurde immer schnell nervös und trug vorsichtshalber, wie sie Eva einmal erklärt hatte, als die das blau-weiße Metallröhrchen im Badezimmer gefunden hatte, einige von diesen Tabletten in der Handtasche mit sich. »Nur für alle Fälle, Evchen. Gegen meine Kopfschmerzen.«

Eva hatte zweifelnd geblinzelt.

Gussy wusste, dass sie zu viele von diesen Tabletten nahm.

Sie hatte in der Neubausiedlung eine Dachgeschosswohnung mit zwei Zimmern gefunden. Erstbezug für sechzig Mark im Monat, dritter Stock, schräge Wände, aber sehr gemütlich, wenn es einmal fertig eingerichtet sein würde. Das war eine ganze Menge Geld, wie sie fand. Die Möbel und Kartons würden Ende der Woche kommen. Nun schliefen sie alle drei auf geliehenen Campingliegen, was die Kinder spannend fanden. Sie nicht.

Es gab ein Bad mit weißem Kohleofen aus schimmernder Emaille und eine gemütliche Wohnküche, und man hatte seinen eigenen abschließbaren Keller, wo man Vorräte an Eingemachtem und die Kohlen aufbewahren konnte. Alle zwei Wochen war man für das Waschhaus eingeteilt, wo man die Wäsche in beheizbaren Zubern waschen und dann mangeln konnte. Direkt daneben lag der Trockenraum.

»Aber bei Sonne kann man die Wäsche ja auch draußen auf der Wiese bleichen!« Gussy klang enthusiastisch.

Zu jedem Mietshaus gehörte eine stattliche Wiese mit einbetonierten Halterungen für die Wäscheleinen und eine Teppichstange.

Die junge Frau Kaminski stemmte ihre Hände in die Hüften. »Sie sind nicht von hier, hab ich recht, Frau Fink?«

Die Rothaarige lachte über das ganze sommersprossige Gesicht.

Gussy schüttelte zaghaft den Kopf.

»Sonst wüssten Sie, dass man hier auch im Sommer die Wäsche besser drinlässt.«

»Warum?«

»Na, wegen der speckigen Rußflocken, die hier überall herumschwirren. Die warten geradezu auf Ihre weiße Wäsche!« Frau Kaminski lachte wieder.

»Speckige Rußflocken?«

Gussy schluckte. Keine zwei Jahre würde sie hier mit den Kindern bleiben, schwor sie sich in diesem Moment. Sie hatte den Umzug an den Rhein längst bereut. Warum hatte sie sich Bange machen lassen? Sie musste endlich aufhören, sich Bange machen zu lassen. Ihre ganze Kindheit über hatte ihre Mutter Erna sie Bange gemacht.

»Was sollen denn die Nachbarn denken?«, war die größte aller Bangemachfragen gewesen, die ihre Kindheit mit den zwei Schwestern und ohne Vater durchzogen hatte. Der Vater August, nach dem sie, Augusta, als Jüngste benannt worden war, war schon gestorben, da war sie noch keine zehn Jahre alt gewesen. Woran er letzten Endes starb, hatte sie nie ganz herausbekommen. Mal sagte die strenge Mutter, er habe eine Lungenkrankheit gehabt, und sie solle nur aufpassen, dass sie nicht auch so ende. Das betete Gussy nach jedem Asthmaanfall, den sie als Kind ausgehustet hatte, herunter.

Dann hatte ihr die älteste Schwester Maria einmal heimlich zugeflüstert, dass der Vater auf der Straße erschossen worden sei. Ob von der Polizei oder von Hitlerleuten wusste Maria nicht. Aber als Roter war ja beides möglich. Dabei hatte Maria ihr zugezwinkert.

Maria hieß auch nur Maria, weil sie nicht getauft war. Keines der drei Mädchen, die von acht Geschwistern übrig geblieben waren, war getauft. Das hatte August, ein sanfter, leiser Mann mit buschigem Schnauzer, nicht zugelassen. Seiner Frau Erna, einer Erzkatholikin, konnte und wollte der Erzkommunist den regelmäßigen Kirchgang mit dem Brimborium, wie er es nannte, nicht verbieten. Das war ihre Angelegenheit, bitte schön. Aber die Kinder hielt er fern davon. Die sollten diesen Humbug erst gar nicht kennenlernen.

Erna war zornig, wusste aber, dass er darin hart bleiben würde, und so handelte sie als Trostpflaster, oder man konnte es auch als einen Vergleich bezeichnen, den Namen Maria für die erste Tochter aus.

Später, nach ein paar Buben, die alle schnell kamen und starben, kam Alma zur Welt und im Jahr darauf dann Augusta. Diesen Namen hatte nun ihr geschiedener Mann Hermann unpassend gefunden und sie in Gussy umgetauft. Mit einem Ypsilon hinten. Das klang mondäner und eine Spur ausländisch. Es gefiel Hermann und auch der nagelneuen Gussy. Erna, die Mutter, nannte sie selbstverständlich nie Gussy. Aber die mochte ja auch Hermann nicht.

Diese wichtigste aller Bangemachfragen – »Was denken wohl die Nachbarn?« – war, wie sie leider zugeben musste, immer noch ihr ständiger Begleiter.

»Rußflocken?« Gussy musste sofort husten.

»Ja, von der Braunkohle. Verbrennt jeder hier. Klütten.«

»Klütten?«

Das kleine Mädchen auf Frau Kaminskis Arm juchzte und warf seine Arme in die Luft. Die junge Frau nickte.

»So nennen wir hier die Briketts.«

»Briketts auch im Sommer?«

Wo um Gottes willen war sie gelandet? So weit entfernt von Frankfurt war Köln nun auch wieder nicht. Begann hier etwa schon das Ruhrgebiet?

»Nein.« Die sommersprossige Frau mit der durchscheinenden Haut musste wieder lachen. »Aber die Betriebe befeuern damit das ganze Jahr über, und wir haben nicht weit von hier den Tagebau. Da kann man sehen, wie sie die Braunkohle aus der Erde kratzen. Sieht nicht schön aus, das will ich Ihnen gleich sagen. Ihren Sonntagsspaziergang mit den Kindern machen Sie besser woanders.«

»Also Friedensschule. Das ist ein sehr guter Name für eine Schule, finde ich. Danke.«

Dann hatte Gussy vorsichtshalber das Weite gesucht.

Nun suchte sie das Büro des Direktors.

»Anmeldung« stand auf dem Schild neben der Tür, von Hand geschrieben. Eine spitze Hand, die als Kind noch Sütterlin geschrieben hatte. Das sah man gleich.

»Herein!«, erscholl eine Frauenstimme, die die zweite Silbe des Wortes eigentümlich nach oben zog und sie dort mit einem Fragezeichen ausklingen ließ. In ihrer alten Heimat Breslau hätte jeder nach dem »Herein« einen harten Punkt gesetzt. An die rheinländische Aussprache musste Gussy sich noch gewöhnen.

Behutsam schloss sie die Tür hinter sich und trat lächelnd ein. »Guten Morgen.«

Die Frau mit der grauen Dauerwelle, die ihren Kopf wie ein Helm zu schützen schien, trug eine weiße Bluse und ein adrettes Strickjäckchen darüber. Sie hatte sich zu Gussy gedreht.

»Ich möchte meine Tochter anmelden. Wir sind neu zugezogen.«

Die Frau musterte sie für einen Moment, ohne zu reagieren.

»Gut, haben Sie die notwendigen Papiere dabei?«

Gussy nickte und zog aus der Handtasche das Stammbuch mit der Geburtsurkunde ihrer Tochter hervor, das sie auf den Tisch legte.

»Brauchen Sie auch das letzte Zeugnis aus der Volksschule in Frankfurt am Main?«

Sie wedelte mit einem hellblauen Hefter, doch die Sekretärin schüttelte den Kopf.

»Frankfurt, soso. Das ist ja ein anderes Bundesland. Mit Hessen hatten wir noch nie zu tun.«

Gussy fand, dass sie sich jetzt so anhörte, als wäre es besser gewesen, wenn sie erst einmal eine bestimmte Zeit in Quarantäne verbracht hätten.

»Wir sind im Grunde auch keine Hessen«, verriet Gussy und versuchte dabei, munter zu lächeln. »Ich bin aus Breslau«, fügte sie schnell...