Gehen - Sprechen - Denken - Wie sich Babys aus eigener Kraft entwickeln - Praxisbuch zur frühkindlichen Entwicklung - Von 0 bis 3 Jahren

Gehen - Sprechen - Denken - Wie sich Babys aus eigener Kraft entwickeln - Praxisbuch zur frühkindlichen Entwicklung - Von 0 bis 3 Jahren

von: Natalie Rehm

Kösel, 2021

ISBN: 9783641265847 , 304 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 18,99 EUR

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Gehen - Sprechen - Denken - Wie sich Babys aus eigener Kraft entwickeln - Praxisbuch zur frühkindlichen Entwicklung - Von 0 bis 3 Jahren


 

Vorwort


Eltern wünschen sich glückliche Kinder. Doch was benötigen die Kleinen alles zu ihrem Glück? Darüber ist schon vieles gedacht, gesagt und geschrieben worden. Sicher ist eines: Sie brauchen Mama und Papa, Großeltern, Spielgefährten, andere Menschen um sich herum, kurz ein von Liebe getragenes Beziehungsgefüge, um sich wohl und geborgen zu fühlen. Nicht weniger sehnen sich schon die Jüngsten aber auch danach, selbstwirksam zu sein. Glück bedeutet für Kinder – und nicht nur für sie –, das, was in ihnen liegt, aus sich herauszuholen. Kleine Menschen wollen ihre Potenziale so umfassend und frei wie nur möglich entfalten, und zwar selbst – aus eigener Kraft.

Anlass für das vorliegende Buch waren persönliche Erfahrungen. Während der Kindergarten- und Grundschulzeit meiner beiden Töchter in der Schweiz wurde ich hellhörig, als Pädagogen auf Elternabenden wiederholt die Schwierigkeiten erwähnten, die Kinder heute mit einfachen Fertigkeiten haben. Beispielsweise sah sich die erfahrene Kindergärtnerin kaum mehr in der Lage, mit ihren 25 Schützlingen zwischen fünf und sieben Jahren täglich an die frische Luft zu gehen, da sich viele Kinder nicht selbstständig anziehen, geschweige denn anderen dabei helfen können. Das überraschte mich, wissen sich doch kleine Leute in der Regel selbst zu helfen, wenn Eltern von Anfang an darauf achten, dass sie sich grundlegende Fähigkeiten selbstständig aneignen. Beziehen sie ihren Nachwuchs von klein auf aktiv in sämtliche pflegerische Tätigkeiten wie An- und Ausziehen ein und geben Kindern genügend Zeit und Raum, ihre Kompetenzen Schritt für Schritt aus eigener Initiative zu erweitern, bewältigen diese alltägliche Aufgaben ohne größere Probleme und mit Freude.

Eine wichtige Inspirationsquelle, die uns Eltern zu dieser Art der Begleitung unserer Kinder bewogen hat, war die Arbeit der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler (1902–1984). Ihr Elternratgeber Friedliche Kinder – zufriedene Mütter. Pädagogische Ratschläge einer Kinderärztin, der 1982 erstmals auf Deutsch erschienen und mir Anfang der 1990er Jahre in die Hände gefallen ist, hat mich auf Anhieb angesprochen. Emmi Pikler schildert darin, wie sich Kinder von Geburt an motorische Fertigkeiten aus eigener Kraft erwerben, vorausgesetzt, sie treffen auf entsprechende materiale und emotionale Rahmenbedingungen, für deren Bereitstellung die Erwachsenen zuständig sind. Bestätigt fand ich ihre Darlegungen durch die selbstständige Bewegungsentwicklung mehrerer Kinder in meinem persönlichen Umfeld, deren Eltern sich an der Pikler-Pädagogik orientierten. Die Geschmeidigkeit, Geschicklichkeit und Sicherheit, mit der sich jene Kleinen bewegten, sowie ihre generelle Zufriedenheit waren ausschlaggebend dafür, dass wir als Eltern unseren eigenen Kindern ebenfalls ermöglichten, eigenständig laufen zu lernen. Dass unsere Töchter aus eigener Kraft und selbstbestimmt gehen lernten, überzeugte mich vollends von der Pikler-Pädagogik. Nach Emmi Pikler bewegen sich alle (gesunden) Kinder im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten geschickt, harmonisch und sicher, sofern sie Gelegenheit haben, motorische Fähigkeiten aus eigenem Vermögen zu erwerben. Natürlich spielt Veranlagung eine Rolle, aber grundsätzlich ist motorische Leistungsfähigkeit nicht, wie häufig angenommen, reine Begabungssache.

Erneut horchte ich auf, als die Lehrkräfte auf einem Elternabend unserer Zweitklässlerin die routinemäßige Überprüfung des Entwicklungsstands aller Schüler ankündigten. Unter anderem sollte die Auge-Hand-Koordination der rund Achtjährigen getestet werden. Sei diese unzureichend ausgebildet, so hieß es, resultiere daraus möglicherweise eine Lese-Rechtschreib-Schwäche. Betroffene tun sich dann mit dem Schreibenlernen schwerer. Der Hinweis auf etwaige Entwicklungsdefizite machte mich stutzig, da die Auge-Hand-Koordination die erste feinmotorische Fertigkeit ist, die sich Babys im Alter von rund drei Monaten aneignen. Das war mir durch die Arbeit Emmi Piklers bekannt. Neu war mir allerdings, dass es offensichtlich einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen motorischen und kognitiven Fähigkeiten gibt.

Ich fragte mich, ob es sich bei derlei Problemen um zufällige Einzelerscheinungen in meinem Umfeld handelte. Meine Recherchen zu Entwicklungsauffälligkeiten junger Heranwachsender führten mir vor Augen, dass motorische, sprachliche und kognitive Schwierigkeiten sowie Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen keine zu vernachlässigenden Randphänomene sind. Zu entsprechenden Ergebnissen kommen etwa Datenanalysen von Einschulungsuntersuchungen in Deutschland, die den Entwicklungsstand von Schulanwärtern ab fünf Jahren unter anderem in den Bereichen Motorik, Sprache und Kognition evaluieren. Beispielsweise ergab die Grundauswertung der Einschulungsdaten in Berlin 2017, dass rund ein Drittel der circa 31 000 ABC-Schützen des kompletten Jahrgangs entwicklungsauffällig war.1

Wissenschaftliche Studien belegen, dass die motorische Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen zwischen 1975 und 2002 im Durchschnitt um mehr als zehn Prozent abgenommen hat.2 Zwar hat die körperliche Fitness junger Heranwachsender in den Jahren 2003 bis 2012 leicht zugenommen. Doch der geringfügig positive Trend konnte sich bis 2017 nicht weiter fortsetzen.3 Die motorische Leistungsfähigkeit stagniert nach wie vor auf niedrigem Niveau mit abnehmender Tendenz.4 Viele Schulkinder beherrschen heute komplexere Bewegungen wie etwa den Seiltänzergang rückwärts nicht mehr. Das exakte Hintereinandersetzen der Beine beim Rückwärtsgehen sollten Kinder normalerweise im Alter von vier bis fünf Jahren problemlos bewältigen können.5

Um ausreichend Bewegung ist es bei Kindern und Jugendlichen seit längerem schlecht bestellt. Laut der Weltgesundheitsorganisation ist Bewegungsmangel ein grassierendes Problem in westlichen Ländern.6 Rund 80 Prozent der in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen bewegen sich zu wenig.7 Der rückläufige Trend macht auch vor den Jüngsten nicht halt. Offensichtlich sind schon Babys und Kleinkinder von einem Mangel an Bewegung betroffen. Die Weltgesundheitsorganisation sah sich 2019 dazu veranlasst, erstmals Empfehlungen zu geben, wie viel sich Kinder im Alter von null bis fünf Jahren bewegen sollten: mindestens drei Stunden täglich ab dem zweiten Lebensjahr.8 Laut Expertenmeinung erhöht Bewegungsarmut in der Kindheit die Wahrscheinlichkeit, eine mangelhafte Motorik auszubilden, an Übergewicht, fehlerhaften Körperhaltungen, psychosozialen und Verhaltensauffälligkeiten sowie einem geringen Selbstwertgefühl zu leiden.9

Auch im Bereich der Sprache werden zunehmend Defizite festgestellt.10 Beispielsweise geben Querschnittanalysen von Routinedaten gesetzlicher Krankenkassen Aufschluss über den Gesundheitszustand der nachwachsenden Generation in Deutschland, die aktuell auf rund 13,5 Millionen Minderjährige beziffert wird.11 Dem Heilmittelbericht 2020 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK ist zu entnehmen, dass 410 000 der bei der AOK versicherten Kinder und Jugendlichen bis 14 Jahre mindestens eine Heilmittelverordnung im Jahr 2019 beansprucht haben. Für 58 Prozent von ihnen waren Entwicklungsstörungen der Grund für die Verordnung einer Heilmitteltherapie. Spitzenreiter der Diagnosegruppe waren »Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache«, die bei 41,4 Prozent der jungen Patienten festgestellt worden sind.12 Rund zwanzig Prozent der Vierjährigen fallen heute durch einen markanten Sprachrückstand auf. Sie verwenden nur Zwei-Wort-Sätze, sprechen undeutlich und begreifen nicht alle Aufforderungen, obwohl sie keinerlei Schwierigkeiten mit dem Gehör haben oder sonstige neuronal bedingte Sprachprobleme aufweisen.13 Eine gestörte Sprachentwicklung kann nach Einschätzung der Wissenschaftler Lese- und Rechtschreibprobleme sowie psychosoziale Auffälligkeiten nach sich ziehen.14

Seit dem Pisa-Schock von 2001 sind die Leistungen der in Deutschland lebenden Schüler im internationalen Vergleichstest zwar stetig angestiegen, doch seit 2016 verlieren sie wieder an Punkten. Gemäß der IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) von 2016, die die Lesefähigkeit von Viertklässlern im Vergleich mit anderen Ländern testet, hat fast jeder fünfte Schüler der vierten Jahrgangsstufe hierzulande Probleme mit dem Lesen. Die Zahl der Grundschüler, die mit massiven Leseschwierigkeiten kämpft, ist seit der Ersterhebung im Wesentlichen stabil geblieben. Doch während 2001 lediglich vier andere Länder durchschnittlich bessere Leseleistungen als deutsche Grundschüler aufwiesen, waren es 2016 bereits zwanzig.15

Seit den 1990er Jahren ist in Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland, Deutschland, Österreich, Großbritannien, Frankreich, Australien und in der Schweiz zu beobachten, dass der seit den 1930er Jahren kontinuierlich zunehmende IQ hauptsächlich in bessergestellten Gesellschaftsschichten wieder abnimmt.16 Offensichtlich verlieren wir »Stück für Stück, IQ-Punkt für IQ-Punkt etwas von unserem Verstand«, heißt es im Dossier der Wochenzeitung Die Zeit vom 28. März...