Das andere Zeugnis von Jesus - Die theologische Alternative des Johannesevangeliums

Das andere Zeugnis von Jesus - Die theologische Alternative des Johannesevangeliums

von: Ludger Schenke

Verlag Herder GmbH, 2021

ISBN: 9783451830488 , 160 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 15,99 EUR

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Das andere Zeugnis von Jesus - Die theologische Alternative des Johannesevangeliums


 

2. Aufbau und Welt des Johannesevangeliums


2.1 Kriterien


Die Aufdeckung von Struktur und Gliederung eines literarischen Werkes kann der erste Schritt zu seiner Interpretation sein. Aber nicht immer liegen die Strukturen offen oder wird eine Gliederung angezeigt. Der Autor des Johannesevangeliums gibt den Aufbau seiner Schrift nur indirekt preis. Die Leser müssen danach suchen. An welche Kriterien können sie sich halten? Das einfachste Mittel zur Gliederung einer Handlung sind Orts-, Zeit- und Personenangaben. Durch sie entstehen Szenen. So auch im Johannesevangelium, und darum muss der Versuch, dieses Werk zu strukturieren, sich vornehmlich an solch einfache Angaben halten.

Vor allem sind die Ortsangaben zu beachten. Der Leser wird durch sie ständig darüber informiert, wo die Handlung spielt und wo sich ihr Hauptakteur Jesus aufhält. Grob lassen sich Szenen in Jerusalem von solchen außerhalb unterscheiden. Fast rhythmisch wechseln sie ab. In Jerusalem ist der Tempel oder ein anderer markanter Ort Schauplatz der Handlung. Außerhalb Jerusalems werden die Landschaften Judäa, Galiläa und Samarien genannt. An diesen Ortsangaben ist einiges anders als in den Synoptikern. Während Markus nur einen einzigen Aufenthalt Jesu in Jerusalem kennt, ist Jesus im Johannesevangelium viermal dort. So entsteht ein Rhythmus von Szenen in und außerhalb von Jerusalem, der auf das Konto des Autors geht. Samarien und seine Bewohner spielen im Johannesevangelium eine betonte Rolle, während Markus Samarien gar nicht zu kennen scheint. Umgekehrt spielt das Ostufer des Sees von Galiläa und seine heidnische Umgebung, die bei Markus wichtig sind, im Johannesevangelium keine Rolle. Schlägt in beiden Fällen bei der Darstellung das Interesse der Autoren und ihrer Leser durch?

Zeitangaben gliedern das Werk ebenfalls. Die in Jerusalem spielenden Abschnitte werden stets durch ein großes jüdisches Fest bestimmt. Jesu erster Aufenthalt dort findet am Paschafest statt (2,13), zum zweiten Mal ist Jesus an irgendeinem Fest der Juden in Jerusalem (5,1), sein dritter Aufenthalt zieht sich vom Laubhüttenfest (7,2.14.37) und bis zum Tempelweihfest (10,22) über drei Monate hin. Der letzte Aufenthalt in Jerusalem wird wieder vom Paschafest bestimmt (13,1). Die Ereignisse außerhalb Jerusalems werden von den Festangaben ebenfalls im weitesten Sinne mitgeprägt: Die Eröffnung der gesamten Handlung spielt kurz vor dem ersten, die Szene 6,1–71 in zeitlicher Nähe zum zweiten (6,4) und der Abschnitt 10,40–11,54 unmittelbar vor dem dritten Paschafest (vgl. 11,55). Etwas mehr als zwei Jahre kommen so zur Darstellung. Schon die großen Auseinandersetzungen Jesu mit den Juden an den Festtagen warnen davor, aus den Zeitangaben eine genauere Kenntnis des Autors über den tatsächlichen Ablauf des Lebens Jesu herauszulesen. Wieder dürfte dafür die Systematik des Autors verantwortlich sein. Bei Markus spielen außer dem letzten Pascha die übrigen Feste der Juden keine Rolle und das Wirken Jesu scheint eigenartig kurz und ganz auf das Ende in Jerusalem ausgerichtet zu sein.

Die Personenregie ist gleichfalls zu beachten. Als typische Personengruppen begegnen die Jünger als Anhänger Jesu und die Juden als seine Gegner. Zwischen beiden Gruppen stehen unentschiedene Sympathisanten, die anfangs Jesus zugeneigt sind, sich dann aber von ihm abwenden und zu Gegnern werden (vgl. 6,60–65; 8,26–58). Zu den Jüngern zählen auch die Samaritaner, der königliche Beamte und sein ganzes Haus, der geheilte Blinde und die Geschwister von Bethanien. Die gegnerischen Juden werden vor allem durch die Pharisäer und Hohenpriester repräsentiert. Sie versuchen, durch Druck und Drohung die Volksmenge zu bewegen, Jesus abzulehnen und zu denunzieren. Dadurch entstehen immer wieder Spaltungen im Volk und Situationen, bei denen aus Sympathisanten Gegner werden. Außerhalb Jerusalems wirkt Jesus Zeichen und gewinnt Jünger, allerdings verringert sich deren Zahl im Zuge der Auseinandersetzungen mehr und mehr. Die Szenen in Jerusalem stellen immer schärfer werdende Kontroversen Jesu mit den gegnerischen Juden dar. Die Jünger bleiben dabei im Hintergrund; außer in 12,23–26 wendet sich Jesus nie direkt an sie. Das ändert sich in 13,1–16,33 und 20,1–29, wo sie die ausschließlichen Adressaten Jesu sind. Insgesamt wirkt die Darstellung schematisiert. Sie folgt einem systematischen Muster, bei dem es immer um die Person Jesu und seinen Anspruch geht. Die Argumente werden auf beiden Seiten ständig wiederholt, und so entsteht ein geradezu ewiger Streit. Zwar finden wir auch in den anderen Evangelien Auseinandersetzungen und Streitgespräche zwischen Jesus und den jüdischen Autoritäten, aber sie werden um Sachfragen geführt und der Anspruch Jesu wird nur selten thematisiert. Dieser Unterschied dürfte zeigen, dass die johanneische Darstellung einer Linie folgt, die ausgehend von der historischen Erinnerung auch die Situation der Leser berücksichtigt, die sich in vergleichbaren Auseinandersetzungen über Jesus mit ihrer jüdischen Umwelt befinden.

2.2 Gliederungsmerkmale


Bevor die Orts- und Zeitangaben und die Personenregie ausgewertet werden, sind einige auffällige Textstücke zu beachten, die offenbar eine strukturierende Funktion haben. Sie stehen völlig situationslos außerhalb der Handlung, kommentieren diese vielmehr.

An erster Stelle ist der Prolog zu nennen (1,1–18). Mit ihm wird den Lesern die Perspektive für ihre Lektüre eröffnet. Das zweite Stück ist 12,37–50: Der reale Autor und danach Jesus selbst blicken auf das öffentliche Wirken zurück und kommentieren die Ablehnung, die Jesus trotz seiner Zeichen bei der Mehrheit der Augenzeugen erfahren hat. Der Unglaube und seine Konsequenzen stehen im Vordergrund des Interesses: Jesu Wirken hat, wie im Prolog (1,10ff) angekündigt, eine Scheidung der Menschenwelt herbeigeführt. Das Stück hat den Charakter eines Epilogs, der zurückblickt und ein Fazit zieht. Noch ist jedoch die Handlung nicht zu Ende. Somit schließt dieser Epilog nur den ersten Teil der Handlung ab, das Wirken Jesu vor der jüdischen Menschenwelt.

Ein analoges Stück – ebenfalls ein Epilog – findet sich in 20,30–31. Es blickt auch auf Jesu Wirken als Ganzes zurück, fasst es erneut unter dem Begriff Zeichen und benennt deren Zweck: Sie sollten den Glauben wecken; das haben sie bei den Jüngern bewirkt. Der reale Autor hat sie aufgeschrieben, um auch bei den Lesern die gleiche Wirkung hervorzurufen. Aber der zweite Epilog schließt das Buch noch nicht ab. Es folgt noch eine Episode, die den Lesern wichtige Informationen über ihre nachösterliche Situation und die beiden wichtigsten Jünger bietet (21,1–24). Erst danach folgt der Buchschluss (21,25), das vierte situationslose Stück. Er stellt fest, dass das begrenzte Werk des Johannesevangeliums für sich genommen zur Begründung und Stärkung des Glaubens der ersten Leser völlig ausreicht.

Diese vier Stücke begrenzen und gliedern das Gesamtwerk. Der Prolog eröffnet den Zugang, der Buchschluss zieht eine Grenze nach außen, auch gegenüber anderen möglichen Büchern. Die beiden Epiloge, die das Wirken Jesu hinsichtlich des Unglaubens und Glaubens bilanzieren, erzeugen zwei große Textblöcke: Der erste stellt das öffentliche Wirken Jesu dar (1,19–12,36), der zweite zeigt, wie das Gesamtwerk Jesu von den Glaubenden gesehen werden soll (13,1–20,29). Die Episode 21,1–24 ist ein Nachspiel, das den Bogen in die Zeit der Leser schlägt, denn jetzt geht es um die Bedeutung, die Petrus und der geliebte Jünger für die Leserschaft haben. Der eine wird zum Hirten aller Schafe und Lämmer Jesu eingesetzt, der andere aber wird als wahrer Zeuge ausgewiesen, der für das im Johannesevangelium bewahrte Zeugnis verantwortlich ist (21,22ff).

2.3 Aufbau


Die Darstellung des Wirkens Jesu in der jüdischen Öffentlichkeit (1,19–12,36) wird durch Ortsangaben gegliedert. Durch sie entstehen insgesamt acht Bilder, die abwechselnd außerhalb oder in Jerusalem spielen. Sie gehören paarweise zusammen und stellen viermal den Weg Jesu von jenseits des Jordan/Galiläa nach Jerusalem dar. Der in diesen acht Bildern umschriebene Zeitraum beträgt zwei Jahre. Die Handlung setzt kurz vor dem ersten erwähnten Paschafest ein und endet wenige Tage vor dem dritten Paschafest Jesu. Dazwischen liegt ein Paschafest, an dem Jesus sich in Galiläa aufhält (6,4).

Die vier Bilder in Jerusalem finden jeweils an einem jüdischen Hochfest statt. Die vier Bilder außerhalb Jerusalems sind gleichfalls recht genau datierbar. Sie beschreiben jeweils Episoden von wenigen Tagen. In 1,19–2,13 kommt eine Woche zur Darstellung, wenige Tage vor Jesu erstem Paschafest. Die Handlung von 3,22–4,54 dauert drei Tage, die von 6,1–71 zwei Tage und eine Nacht, und an vier Tagen spielt der Abschnitt 10,40–11,54.

Der zweite Textblock, das Wirken Jesu für die Seinen (13,1–20,29), die ihn aufgenommen haben (1,13f), stellt eine durchlaufende Handlung dar, deren Ort Jerusalem ist. Eine Untergliederung ist gleichwohl leicht möglich aufgrund der unterschiedlichen Schauplätze in Jerusalem, der Zeitangaben und der dargestellten Situationen. Die Handlung setzt am Vorabend des Rüsttages zum Paschafest ein (13,1). Jesus und seine Jünger sind in einem Haus zum Mahl versammelt (13,2). In dessen Verlauf deutet Jesus den Seinen die nahe und ferne Zukunft (13,1– 17,26). In 18,1 ändert sich der Schauplatz: Jesus betritt einen Garten, wo er verhaftet wird. Von da an laufen die einzelnen Stationen der Passion vor dem Leser ab: Haus und Hof des Hannas, der Palast des Pilatus, Golgotha, erneut ein Garten. Erst in 19,42 endet der Handlungsbogen. Die Handlung setzt...