Der Wahrheit verpflichtet - Meine Geschichte - Die Autobiographie

Der Wahrheit verpflichtet - Meine Geschichte - Die Autobiographie

von: Kamala Harris

Siedler, 2021

ISBN: 9783641282677 , 336 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Der Wahrheit verpflichtet - Meine Geschichte - Die Autobiographie


 

Vorwort

Morgens wacht mein Mann meistens vor mir auf und liest im Bett die Nachrichten. An den Geräuschen, die er dabei von sich gibt – ob er seufzt, ächzt oder schnaubt –, kann ich schon ahnen, was es für ein Tag werden wird.

Der 8. November 2016, der Tag der Senatswahl, fing eigentlich ganz gut an. Ich sprach mit so vielen Wählerinnen und Wählern, wie ich konnte, und gab in der Schule nahe unseres Hauses meine Stimme ab. Wir waren guter Dinge. Für die Wahlparty hatten wir einen großen Saal gemietet, das Luftballonbad war vorbereitet. Aber davor ging ich noch mit meiner Familie und einigen guten Freunden zum Abendessen, eine Tradition, die wir seit meinem ersten Wahlkampf pflegen. Aus dem ganzen Land und sogar aus dem Ausland waren Leute angereist, um dabei zu sein – Tanten, Cousins, meine Schwiegereltern, die Schwiegereltern meiner Schwester und viele mehr hatten sich eingefunden und freuten sich auf einen besonderen Abend.

Ich blickte aus dem Autofenster und dachte daran, wie weit wir schon gekommen waren, als ich Dougs typisches Stöhnen hörte.

»Das musst du dir mal ansehen«, sagte er und gab mir das Handy. Es waren die ersten Ergebnisse der Präsidentschaftswahl, die am selben Tag stattfand. Irgendwas war da gerade im Gange, und es war nichts Gutes. Als wir im Restaurant ankamen, war der Abstand zwischen beiden Kandidaten zusammengeschmolzen, und auch ich begann innerlich zu stöhnen. Die aktuellen Prognosen auf der Website der New York Times ließen vermuten, dass uns eine lange, düstere Nacht bevorstand.

Wir aßen in einem kleinen Nebenraum des Restaurants. Die Emotionen kochten hoch, das Adrenalin stieg, aber nicht aus den erwarteten Gründen. Einerseits waren wir zuversichtlich, dass ich gewinnen würde, obwohl die Wahllokale in Kalifornien noch nicht geschlossen hatten. Andererseits starrten wir, während wir uns auf die Siegesfeier einstimmten, wie gebannt auf die Bildschirme, als aus einem Bundesstaat nach dem anderen alarmierende Resultate eintrafen.

Irgendwann kam mein neunjähriges Patenkind Alexander mit dicken Tränen in den Augen zu mir. Ich nahm an, dass ein anderes Kind aus unserer Runde ihn geärgert hatte.

»Komm her, kleiner Mann. Was ist denn los?«

Alexander blickte mich an. Seine Stimme zitterte. »Tante Kamala, der Mann darf nicht gewinnen. Er gewinnt doch nicht, oder?«

Es brach mir fast das Herz. Ich wollte nicht, dass ein Kind sich so fühlte. Acht Jahre zuvor hatten wir alle Freudentränen geweint, als Barack Obama zum Präsidenten gewählt worden war. Und jetzt Alexanders Angst zu sehen …

Sein Vater Reggie ging mit ihm nach draußen, um ihn zu trösten.

»Alexander, du weißt doch, wie schwierig es für Superhelden manchmal wird, wenn sie von einem Bösewicht angegriffen werden. Was machen sie dann?«

»Sie wehren sich«, antwortete er schluchzend.

»Genau, sie wehren sich mit aller Leidenschaft, denn die besten Superhelden haben genauso starke Gefühle wie du. Aber sie wehren sich immer. Und das tun wir auch.«

Kurz darauf meldete die Nachrichtenagentur AP, dass ich zur Senatorin gewählt worden war. Wir saßen noch im Restaurant.

»Ich weiß gar nicht, wie ich euch danken kann, dass ihr immer bei mir seid«, sagte ich zu meinen Verwandten und Freunden. »Das bedeutet mir so viel.« Ich empfand große Dankbarkeit für alle, die da waren, und für Menschen wie besonders meine Mutter, die das nicht mehr miterleben konnten. Ich wollte den Moment genießen, und einen kurzen Augenblick gelang es mir auch. Aber wie alle anderen blickte ich bald schon wieder auf den Fernseher.

Nach dem Abendessen fuhren wir zu unserer Wahlparty, wo sich inzwischen mehr als tausend Anhänger versammelt hatten. Jetzt war ich nicht mehr die Kandidatin, jetzt war ich Senatorin – die erste Schwarze* Frau aus meinem Bundesstaat und die zweite in der Geschichte des Landes, die in dieses Amt gewählt worden war. Ich sollte 39 Millionen Menschen vertreten – etwa jeden achten Amerikaner, Leute mit ganz unterschiedlichem Hintergrund und Lebensweg. Es war und ist eine große Ehre, die mich bescheiden macht.

* Das Adjektiv »Schwarz« ist in diesem Buch konsequent groß geschrieben. Dies entspricht einer Schreibweise der Schwarzen Community, die damit auf rassistische Zuschreibungen aufmerksam machen will. (Anm. d. Red.)

Mein Team applaudierte und jubelte, als ich den Raum hinter der Bühne betrat. Es fühlte sich noch immer unwirklich an. Niemand hatte schon richtig verstanden, was gerade passiert war. Sie stellten sich im Kreis um mich herum auf, und ich dankte ihnen für alles, was sie für mich getan hatten. Auch wir waren eine Familie, und wir hatten einen unglaublichen Weg hinter uns. Einige der Anwesenden waren seit meinem ersten Wahlkampf um die Bezirksstaatsanwaltschaft dabei. Aber jetzt, zwei Jahre nach Beginn unseres Senatswahlkampfs, standen wir vor einem neuen Berg, den es zu erklimmen galt.

Ich hatte meine Dankesrede in der Annahme geschrieben, dass Hillary Clinton zur ersten Präsidentin der Vereinigten Staaten gewählt werden würde. Doch als ich die Bühne betrat, um meinen Unterstützern zu danken, ignorierte ich meinen Entwurf. Ich blickte mich im Saal um. Die Menschen standen dicht an dicht, auf dem Parkett und auf der Empore. Viele waren wegen der landesweiten Entwicklung in Schockstarre.

Ich sagte den Anwesenden, dass nun gewaltige Aufgaben auf uns zukämen. Wir müssten uns dazu bekennen, dieses Land zu einen und alles zu tun, um unsere Werte und Ideale zu verteidigen. Ich dachte an Alexander und alle Kinder, als ich fragte:

»Wollen wir uns verstecken, oder wollen wir kämpfen? Ich werde kämpfen!«

An diesem Abend begleiteten mich meine Verwandten auf dem Weg nach Hause, manche von ihnen übernachteten bei uns. Wir gingen auf unsere Zimmer, schlüpften in bequeme Klamotten und fanden uns gemeinsam im Wohnzimmer ein. Einige saßen auf dem Sofa, andere auf dem Fußboden. Alle starrten wieder auf den Fernseher.

Wir waren sprachlos. Jeder versuchte, das Ergebnis auf seine Weise zu verarbeiten. Ich saß neben Doug auf der Couch und schaufelte ganz allein eine Familientüte Chips in mich hinein.

Aber eines war mir klar: Dieser Kampf war vorbei, und nun begann ein anderer. Ein Kampf, der uns alle forderte. Diesmal ging es um die Seele unseres Landes.

In den Jahren, die seither vergangen sind, musste ich mit ansehen, wie die Regierung sich zu Hause auf die Seite der Rassisten stellte und im Ausland bei Diktatoren einschmeichelte; wie sie Müttern ihre Babys entriss und damit in grotesker Weise gegen Menschenrechte verstieß; wie sie Konzernen und Reichen riesige Steuergeschenke machte und die Mittelschicht vergaß; wie sie unseren Kampf gegen den Klimawandel torpedierte, das Gesundheitswesen sabotierte und das Recht der Frauen infrage stellte, über ihren eigenen Körper zu bestimmen; und wie sie gleichzeitig auf alles und jeden einschlug, darunter auch die freie und unabhängige Presse.

Das sind wir nicht. Wir Amerikaner wissen, dass wir besser sind. Aber wir müssen es unter Beweis stellen. Wir müssen dafür kämpfen.

Am 4. Juli 1992 hörte ich eine Rede, die mich bis heute begleitet. Sie wurde von Thurgood Marshall gehalten, dem ersten Schwarzen Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, einem meiner großen Vorbilder. »Wir dürfen unsere Augen nicht vor der Wirklichkeit verschließen«, sagte er. »Die Demokratie kann nicht aufblühen in einem Klima der Angst. Freiheit kann nicht aufblühen in einem Klima des Hasses. Gerechtigkeit kann nicht aufblühen in einem Klima der Wut. Wir Amerikaner müssen uns an die Arbeit machen … Wir müssen gegen die Gleichgültigkeit ankämpfen. Wir müssen gegen die Apathie ankämpfen. Wir müssen gegen Angst, Hass und Misstrauen ankämpfen.«

Dieses Buch entspringt seinem Aufruf zum Handeln und meiner Überzeugung, dass unser Kampf beginnt und endet, indem wir die Wahrheit aussprechen.

Ich bin überzeugt, dass es kein stärkeres Mittel gegen das Gift unserer Zeit gibt als gegenseitiges Vertrauen. Wir schenken Vertrauen, und wir empfangen es zurück. Einer der Eckpfeiler jedes Vertrauensverhältnisses ist es, die Wahrheit auszusprechen. Unsere Worte haben Gewicht, genau wie der Wert, den wir selbst und andere ihnen beimessen.

Unsere größten Probleme können wir nur dann bewältigen, wenn wir ehrlich mit ihnen umgehen, wenn wir bereit sind, schwierige Gespräche zu führen und wenn wir den Tatsachen ins Auge sehen.

Wir müssen die Wahrheit aussprechen: Rassismus, Sexismus, Homophobie, Transphobie und Antisemitismus sind real in unserem Land, und wir müssen uns damit auseinandersetzen. Wir müssen die Wahrheit aussprechen, dass mit Ausnahme der Ureinwohner alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes von Menschen abstammen, die nicht hier geboren wurden – egal, ob unsere Vorfahren freiwillig und in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft herkamen, ob sie auf einem Sklavenschiff hierher verschleppt wurden oder ob sie diese Küsten auf der verzweifelten Flucht...