Die weite Leere - Kriminalroman

Die weite Leere - Kriminalroman

von: J. Todd Scott

Polar Verlag, 2021

ISBN: 9783948392178 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 17,99 EUR

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Die weite Leere - Kriminalroman


 

Tall Men Riding


Mein Vater hat drei Männer umgebracht.

Den ersten drüben in Graham, als ein verdeckter Drogendeal aufflog. Damals war er viel jünger, nur ein Deputy, noch nicht der Judge, und sollte von einem kalifornischen Nigger – seine Wortwahl, nicht meine – Gras kaufen. Vor den richtigen Leuten und mit ein paar Lone Stars oder einem Balcones Texas Single Malt intus – er tut dann so, als würde auch ihm davon die Zunge locker werden, aber das stimmt nicht – brüstet er sich gern: Ich hab dem schwarzen Pisser zwei Kugeln verpasst.

Die erste, weil er ein Nigger in Texas war, die zweite, weil er ein Scheiß-Nigger-Dealer in seinem Teil von Texas war.

Den zweiten, Dillon Holt, hat er hier in Murfee abgeknallt. Im Spätsommer vor ein paar Jahren, als Dillon die Remington seines Granddads auf seine Frau und die kleine Tochter gerichtet hatte.

Ich gehe auf dieselbe Schule wie Dillons jüngerer Bruder Dale, deshalb kenne ich Dillon ein bisschen. Ich weiß, dass nur ein Teil von ihm aus dem Irak zurückkam, und der war kaputt und wütend. Weil er den Kühen Angst gemacht hat, flog er bei seinem Job auf der Comanche-Ranch raus, und im Early’s hat er sich fast jeden Abend geprügelt. Irgendwann wurde es so schlimm, dass sie ihn dort nicht mehr bedient haben. An seinem letzten Freitagabend saß er deshalb allein mit einem Zwölferträger Pearl unter den Pekannussbäumen hinter seinem Haus, bis er am frühen Samstagmorgen etwas Meth auftreiben konnte. Nachmittags stand er ohne Hemd auf der Veranda, brüllte alles und nichts an, der Körper schweißnass, aufgedunsen und glühend, als würde er brennen. Seine Frau Brenda hatte die kleine Ellie auf dem Arm und hielt sich und dem Baby die Augen zu, damit sie nicht in die Mündung der Remington schauen mussten.

Ich weiß das alles, weil ich dort war. Als der Notruf kam, nahm mein Vater mich mit und ließ mich im Pick-up warten. Dass ich zuschauen würde, wussten alle im Sheriff’s Department, aber keiner hat irgendwas dagegen gesagt.

Er wollte, dass ich mit ansah, wie er Sachen regelt.

So hat er es damals genannt, so nennt er es heute noch.

Mein Vater redete auf Dillon ein, ließ ihn rumbrüllen, damit er müde wurde, aber als er die Flinte einmal zu oft auf Brendas Gesicht richtete, schoss mein Vater ihm mit seiner Ruger Mini-14 mitten in die nackte, glühende Brust.

Überall war heißes Blut, es spritzte auf das Fliegengitter der Veranda, auf die Fenster, auf Brenda, aufs Baby. Es fiel schnell, wie Sternschnuppen … rote Blitze. Trifft Blut auf Holz oder Haut, macht es dieses spezielle Geräusch. Dillons Gebrüll ging im Schreien seiner Witwe unter. An dem Tag war es heiß wie im Backofen, doch mein Vater schwitzte nicht. Als er sich danach in den Pick-up beugte, um die Ruger zu verstauen, die noch nach Rauch und Öl stank und sich an meinem Knie warm anfühlte, war seine Haut kalt. Staubtrocken wie die einer Schlange. Er zwinkerte mir zu, als wären wir alte Freunde.

So regelte er die Sache mit Dillon Holt.

Der dritte war der Mann von Nancy Coombs, der Frau, mit der er ins Bett ging, nachdem meine Mutter verschwunden war.

Roger Coombs hat er nicht erschossen wie Dillon Holt oder den Schwarzen in Graham. Soweit ich weiß, hatte er den Finger nicht mal in der Nähe des Abzugs, was aber auch keine Rolle spielte, weil es auf dasselbe hinauslief. In der Geschichte, die ich gehört habe, kam Roger nach einem Spiel der Big Bend Central Raiders nach Hause und fand meinen Vater mit Nancy im Schlafzimmer – die Fotos von der Hochzeit und den Flitterwochen im Excalibur in Las Vegas schauten auf beide herunter, während mein Vater Nancy zum Stöhnen brachte. Nachdem mein Vater mit Lachen fertig war und sich an Rogers Laken abgewischt hatte, flogen Beleidigungen hin und her, vielleicht auch ein paar Fäuste, aber mehr passierte nicht – wenigstens nicht an diesem Tag. In Murfee hatte man schon über meinen Vater und Nancy getuschelt, aber einen Aufstand machte deswegen niemand.

Wer hätte auch was gegen den berühmten Sheriff Stanford »Judge« Ross sagen sollen?

Und so musste Roger allein mit allem fertigwerden: mit dem Gerede, dem Gegrinse, dem Gelächter. Jeder wusste von Nancy und meinem Vater, Roger konnte nicht aus dem Haus gehen, ohne daran erinnert zu werden. Von morgens bis abends, an jedem x-beliebigen Tag … Jedes Mal, wenn jemand für eine Flasche Lone Star, eine Packung Zigaretten oder eine Dose Kautabak in den Hi ’n’ Lo kam, wo er Geschäftsführer war. Jedes Mal, wenn mein Vater reinschaute und sich, manchmal noch nach Nancy riechend, ohne zu zahlen einen Kaffee, schwarz und bitter, einschenkte und den Laden mit einem Zwinkern und einem breiten Lächeln wieder verließ.

Denn Sheriff Ross bezahlt in Murfee für nichts.

Nicht mal für die Frau eines anderen.

Als er es nicht mehr aushielt, fuhr Roger mit seinem alten Ford F-150 auf den Parkplatz des Sheriff’s Department, zog eine nagelneue Gillette über beide Handgelenke und verteilte sein Blut über alte McDonald’s-Tüten und den anderen Müll in seinem Auto. Chief Deputy Duane Dupree sah ihn zuerst. Rogers letzter Atem beschlug die Scheibe des Pick-ups, aber Duane ließ sich Zeit, bevor er zum Telefonhörer griff. Er zündete sich noch eine Zigarette an, während er die Nummer meines Vaters wählte und etliche Minuten später die des Rettungsdiensts. Als der Krankenwagen eintraf, war Roger seit einer Viertelstunde tot und das Letzte, was er in dieser Welt sah, war Duane Dupree, der seelenruhig eine Lucky Strike rauchte und mit dem Daumennagel in seinen Zähnen pulte, während er ihm beim Sterben zuschaute.

Roger hinterließ einen Abschiedsbrief. Das weiß ich, weil ich nachts mal gehört habe, wie Duane und mein Vater auf unserer Veranda darüber redeten, aber gesehen oder gelesen hat ihn niemand. Duane hat über den Brief gelacht, aber mein Vater sagte nichts, sondern warf ihm nur diesen Blick zu, wenn seine grauen Augen schwarz werden und sich in ihnen nichts und niemand widerspiegelt.

Der Blick bringt jeden schwächeren Menschen schneller zum Schweigen als ein Wort von ihm. Und wir sind alle schwächer. Duane schaute meinem Vater also in die Augen und sagte, er würde sich um den verdammten Brief kümmern, ihn auf seinem Weber-Grill verbrennen, und ich verwette mein Leben, dass er genau das getan hat.

Die erste Frau meines Vaters war Vickie Schori. Sie kannten sich aus der Highschool in Murfee und heirateten ein halbes Jahr nach dem Abschlussball. Beim Ball war er natürlich der König, sie die Königin – aber nur ein paar Jahre später verließ sie ihn und brannte nach El Paso durch. Die meisten hielten das für das Beste, wenigstens für den jungen Deputy Ross (Sheriff war er da noch lange nicht). Über die Schoris hatte es immer böse Gerüchte gegeben. Sie hatten die West Texas Cattle Auction, die heute Comanche heißt, gegründet und eine Ewigkeit geleitet, dann aber verkauft und waren kurz nach Vickies Verschwinden weggezogen. Niemand weiß, wo sie abgeblieben sind. Keiner hat Vickie jemals wiedergesehen.

Bei uns zu Hause habe ich nie ein Foto von ihr entdeckt, aber in der Schule hängt eines, hinter Glas, im Eingangsbereich. Es gehört zu einer Collage aus bestimmt hundert Fotos, Momentaufnahmen aus der Geschichte der Big Bend Central Highschool. Das Foto ist schwarz-weiß, verblichen. Sie steht auf einem Footballfeld und sieht im Flutlicht aus wie ein Geist. Ihr Kleid hat weite Ärmel, ihre Haare wehen im Wind und sie winkt, lächelt sogar, während sie in die Ferne schaut. Sie ist sehr hübsch.

Von meinem Vater sieht man nur eine Hand, sie liegt schwer auf ihrem Arm, hält sie fest. Dass er es ist, weiß ich. Diese Hände würde ich immer erkennen. Er ist da, aber nicht zu sehen. Der Rest von ihm wird von einem Baseballfoto aus dem Jahr 1988 verdeckt.

Die zweite Frau meines Vaters war Nellie Banner, sie heirateten knapp ein Jahr nach Vickies Verschwinden. Auch ihre Familie hatte lange in Murfee gelebt; als mein Vater und Vickie auf dem Abschlussball tanzten, ging Nellie in die neunte Klasse. Vickie war eine echte Texas-Blondine, Nellie dagegen klein, dunkel, mit einem Tropfen mexikanischem Blut, obwohl das niemand laut aussprach. Mein Vater hat nicht viel von ihr erzählt, aber ich glaube, sie haben sich oft gestritten. Streiten, versöhnen, wieder streiten. Am Anfang wohnten sie draußen in der Peachtree und die Nachbarn gewöhnten sich sicher schnell an das Geschrei und Geprügel. Trotzdem ließen sich die beiden jeden Sonntag in der Kirche blicken, mein Vater in seiner Uniform, Nellie in ihrem weißen Sonntagskleid, auch wenn sie vielleicht etwas mehr Make-up trug, als die anderen Frauen für angemessen hielten.

Vielleicht gefiel sie sich so besser. Vielleicht brauchte sie die zusätzliche Farbschicht auch, um ein blaues Auge zu...