Novembernachtskuss

Novembernachtskuss

von: Lisa F. Olsen

Elysion Books, 2021

ISBN: 9783960001669 , 260 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 3,99 EUR

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Novembernachtskuss


 

Kapitel 1

Arian

Das Gewicht der Gitarre ruht schwer auf meinem Brustkorb. Die Melodie, die meine Finger wie im Schlaf auf den warmen Saiten spielt, füllt meinen Körper, bis es nur noch dieses Lied gibt. Bis ich eins werde mit den Klängen jahrelanger Musikgeschichte. Bis ich nicht mehr daran denken muss, was ich vor nicht allzu langer Zeit verloren habe. Der Sound meiner Akustikgitarre ist mir so vertraut, wie seine Stimme, die jetzt nur noch eine blasse Erinnerung ist.

Ich fange an zu singen. Leise. Aber laut genug, dass ich nicht mehr daran denken muss, dass ich vor einem halben Jahr meinen Vater verloren habe. Dass ich seither ein Leben lebe, das sich anfühlt als würde es nicht mir gehören. Bei jeder weiteren Zeile wünsche ich mir, ich könnte wieder zurück. Zurück zu dem Tag, als mir meine Stiefmutter noch in die Augen gucken konnte. Zurück zu dem Moment, als wir eine Familie waren.

Ich kämpfe mich durch das Lied, weil mir das Atmen plötzlich schwerfällt und meine Fingerspitzen zu schmerzen beginnen.

»Hast du auch noch andere Stücke in peto, Cobain?« Ihre Stimme erschreckt mich so sehr, dass ich vergesse umzugreifen und ein ätzender Ton in der kleinen Kammer, die seit einigen Monaten mein Zimmer ist, zu hören ist. Wobei Zimmer in dem Fall eine absolute Übertreibung ist. Ich bezeichne es eher als Loch mit einem kleinen Fenster. Manchmal frage ich mich, ob der Brief der Zauberschule, der mich aus meinem elendigen Leben befreit, noch kommt. Vielleicht klopft auch irgendwann ein Filmteam an unsere Haustür, um eine moderne Aschenputtel-Verfilmung abzudrehen. Aber es sammeln sich weder irgendwelche Eulen vor unserem Haus, noch singt jemand im Hintergrund Only time, wenn ich durch die Schulflure streife. Ich hatte einfach Pech und das ist kein modernes Märchen, sondern mein verdammtes Leben.

»Was willst du?«, entgegne ich, halte den Blick aber weiterhin auf die Decke über mir gerichtet.

»Dich aus deinem Niemandsland holen.« Dann greift Alexis einfach nach meiner Gitarre, legt sich ungefragt neben mich und beginnt irgendeinen fetzigen Song zu spielen. Lexi ist eine meiner Stiefschwestern. Die Nettere der beiden.

»Was machst du hier?«, hake ich nach. Sie legt die Gitarre weg und dreht sich zu mir.

»Du hast eben so verloren gewirkt, als du gegangen bist  … ich fands nicht in Ordnung, was Hanna gesagt hat.« Dabei funkelt sie mich entschuldigend aus ihren schlammbraunen Augen an. Eigentlich war es nicht anders als sonst. Ihre Zwillingsschwester und ich haben immer schon Differenzen. Als Hanna heute aber gesagt hat, dass sie sich wünscht, ich würde einfach wieder nach Hamburg verschwinden, bin ich aufgesprungen und gegangen, anstatt etwas zu erwidern.

»Du hättest nicht vorbeikommen müssen«, entgegne ich und rutsche ein Stück von ihr weg.

»Doch. Ich habe ihr auch gesagt, dass sie sich entschuldigen soll. Aber … Warum ist das so zwischen euch?«

Wenn ich ihr das beantworten könnte, würde ich es wahrscheinlich auch schaffen eines der sieben ungelösten Millennium-Probleme der Mathematik zu lösen.

»Keine Ahnung«, erwidere ich.

»Ich lasse ihr das auf jeden Fall nicht mehr durchgehen. Ich will nicht, dass du dich hier unerwünscht fühlst«, entgegnet Alexis entschlossen und fährt sich durch ihre braunen, kurzgeschnittenen Haare.

»Ich schaffe das schon allein.« Ich will mich auf gar keinen Fall zwischen die beiden stellen. Wir schweigen einen Moment, bis ihr Räuspern die Stille durchbricht.

»Ich werde auch nochmal mit Mama sprechen«, flüstert sie und ihre Worte treffen mich. Ich weiß, dass sie ihre Mutter liebt. Aber sie wird trotzdem nie verstehen, warum Iris mich keines Blickes mehr würdigt. Warum wir uns im selben Raum aufhalten und trotzdem beide irgendwie nicht da sind. Dennoch würde ich meine Stiefmutter manchmal gerne schütteln und ihr sagen, dass sie doch die einzige Familie ist, die mir bleibt.

»Musst du nicht«, antworte ich und seufze frustriert. Dann schweigen wir wieder. Lexi und ich sind sehr gut darin, die Leere mit unseren Gedanken oder unserer Musik zu füllen. Ich greife wieder nach meiner Gitarre, spiele mehrere Lieder, bis Lexi sich irgendwann gähnend verabschiedet.

Der nächste Morgen startet wie jeder andere, eine feuchte Zunge leckt über meine Finger und binnen Sekunden bin ich wach. Ich kraule dem kleinen Beagle den Kopf und lege ihm dann sein Geschirr an. Nachdem ich mich fertig gemacht und meine Jacke übergeworfen habe, verlassen wir das Haus. Kurt schnüffelt wie wild herum, während ich versuche, nicht wieder einzuschlafen. Der kühle Oktobermorgen ist farblos und leise, lediglich der Wind, der durch die Blätter weht, ist zu hören. So früh ist selten jemand unterwegs. Schon gar nicht in unserer Nachbarschaft. Als Papa gestorben ist, mussten wir in einen günstigeren Stadtteil ziehen und sehr wenige der Nachbarn verlassen vor zehn Uhr ihre Wohnung. Mein Blick wandert über die betonfarbenen Mehrfamilienhäuser, die genauso trist und trostlos wirken wie mein Leben. Nur schmerzlich erinnere ich mich an die schönen Fachwerkhäuser und den für den Norden typischen Backstein­expressionismus. Davon ist in Bromburg wenig zu sehen. Eigentlich wirkt es sogar fast wie ein Mahnmal, das mich daran erinnert, dass ich einmal alles hatte und davon nicht mehr als ein grauer, eintöniger Rest zurückgeblieben ist.

Auf dem Rückweg lässt sich langsam die Sonne blicken. Der kleine Hund streckt immer wieder sein Köpfchen gen Licht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er der Einzige ist, der diese Familie noch zusammenhält.

Im Hausflur begegne ich Hanna, die sich offenbar gerade zurück in unsere Wohnung schleicht und hofft, nicht von Iris erwischt zu werden.

»Morgen«, murmele ich und leine Kurt ab, der sie freudig begrüßt. Während sie dem Hund den Kopf tätschelt, erhalte ich nur ein knappes Nicken.

Das Frühstück ist wie immer ein Kampf, auch wenn sich Alexis bemüht mich ins Gespräch einzubeziehen, aber von Iris kommt keine Reaktion. Danach gehen Lexi und ich schweigend nebeneinander zur Straßenbahn, die uns zur Schule bringt.

Nach zwanzig Minuten erreichen wir endlich die Haltestelle des Ludwig-Bechtstein-Sportgymnasiums. Lustlos greife ich die Träger meines Rucksacks enger und bewege mich gemeinsam mit Marla in Richtung des neuen aluminiumverkleideten Traktes des Schulgebäudes. Lexi hat sich den Rauchern angeschlossen, die neben der Haltestelle stehen. Warum ich ein Sportgymnasium besuche, obwohl ich in keiner Aktivität, die mit körperlicher Bewegung zutun hat wirklich gut bin? Keine Ahnung. Scheinbar hat der Verlust meiner Mutter, der meines Vaters und der meines vorherigen Lebens dem Schicksal nicht ausgereicht. An der letzten Schule war ich einer der beliebtesten Schüler und ich habe es genossen. Seit ich zu Beginn der 11. Klasse hierher gewechselt bin, nennen mich die meisten nur den Neuen. Den anderen bin ich ziemlich egal. Aber sie mir auch. Deswegen gebe ich mir auch keine Mühe, überhaupt jemanden kennenzulernen. Ich will nächstes Frühjahr Abi machen und dann weg von hier.

»Hast du mit Lexi endlich mal über Hanna gesprochen?«

»Nein. Aber sie kam gestern in mein Zimmer und hat sich für das Verhalten von ihrer Schwester entschuldigt«, erwidere ich und mustere meine beste Freundin.

Wenn man Marla das erste Mal sieht, fällt einem wahrscheinlich kaum etwas auf, außer, dass sie mit den hellblauen Augen, den schwarzen Haaren und der hellen Haut an Schneewittchen erinnert. Ihre Augen stehen etwas zu weit auseinander und ihr Gesicht ist mit Sommersprossen gesprenkelt. Aber spätestens, wenn sie anfängt zu sprechen, wird deutlich, dass sie ziemlich besonders ist. Ihre Stimme klingt unmelodisch und zwischen den Wörtern lässt sie oft zu lange Pausen.

Vor zwei Jahren hatte sie eine schwere Mittelohrentzündung, bei der es Komplikationen gab, woraufhin sie ihr Gehör verloren hat. Seitdem haben sich ihre Freundinnen von ihr abgewandt und sie ist ähnlich wie ich, wie ein einsamer Wolf durch die Schule gestreift. Bis sie neben mir im Sportunterricht auf der Auswechselbank gesessen hat und wir uns auf Anhieb verstanden haben. Seither sorgt sie dafür, dass mein Leben sich nicht mehr ganz so scheiße anfühlt, wofür ich ihr unendlich dankbar bin.

»Finde ich gut«, erwidert sie, viel zu spät und ich sehe, dass ihr Blick irgendjemanden hinter mir fixiert. Ich will mich gerade umdrehen und nachsehen, da legt sie mir schon die Hand auf den Arm.

»Er guckt gerade her«, flüstert sie und ich kann mir ein Grinsen kaum verkneifen.

»Jonas?«, forme ich mit den Lippen, was sie mit einem Nicken bestätigt. »Sprich ihn endlich mal an«, fordere ich flüsternd, woraufhin sie nur mit dem Kopf schüttelt und ihre schwarzen Locken durch die Luft fliegen. Marla ist, seit ich sie kenne in Jonas verliebt. Allerdings weiß der Fußballspieler nichts von seinem Glück und wenn es nach Marla geht, dann wird das auch so bleiben. Auf dem Weg zum Mathekurs versuche ich sie weiter zu überzeugen, während sie mir Gründe liefert, warum sie ihn nicht ansprechen kann.

»Er kann sich garantiert nicht mehr an unseren Kuss erinnert. Und ich werde ihm sicher nicht erzählen, wie viel es mir bedeutet hat, nur damit er mir am Ende das Herz bricht.« Ihre zarten Finger tanzen durch die Luft, während ihr trauriger Gesichtsausdruck die Gebärden unterstreicht.

»Trotzdem musst du dich irgendwann entscheiden, ob du ihn nochmal küssen oder ihn weiter anschmachten willst.«

Daraufhin formt sie ihre...