Beseeltes Alter - Über Hoffnung und Zuversicht im Spätherbst des Lebens

Beseeltes Alter - Über Hoffnung und Zuversicht im Spätherbst des Lebens

von: Gerhard Sauter

Gütersloher Verlagshaus, 2021

ISBN: 9783641279752 , 192 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 6,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Beseeltes Alter - Über Hoffnung und Zuversicht im Spätherbst des Lebens


 

2. DIE SEELE ALS DESIDERAT EVANGELISCHER THEOLOGIE

Der damit verbundene Mentalitätswandel ist für die evangelische Theologie nicht folgenlos geblieben.1 Die Seele ist für sie kein prominentes Thema mehr, auch in der Eschatologie spielt sie nur noch am Rande eine Rolle, in der Regel eine problematische (»unsterbliche Seele«)2. »Seele« ist zu einem Problembegriff geworden.

Im 20. Jahrhundert wurde bei der Wendung evangelischer Theologie zum Personalismus der Seele keine nachdrückliche Beachtung geschenkt.3 In den – ohnehin seltenen – Beiträgen zu einer theologischen Anthropologie ist von ihr kaum eingehend die Rede. Der klassischen Unterscheidung von Seele und Leib widmete sich ausführlich nur Karl Barth: Der Mensch ist, »indem er als Seele seines Leibes von Gott begründet, konstituiert und erhalten wird«4, und zwar dank des Geistes als »Lebensprinzip und Lebenskraft« »des ganzen Menschen«5. Seele und Leib sind wechselseitig aufeinander bezogen, und zwar mit einem Vortritt der »vernehmenden und tätigen Seele«, die den »wahrnehmenden und begehrenden« Leib so regiert, dass beide, miteinander verschränkt, »sich von Gott in Anspruch nehmen lassen«6. Wolfhart Pannenberg rückte die menschliche Identität aus entwicklungspsychologischer und soziologischer Sicht an die Stelle der Seele und kombinierte diese Identität mit dem lebendigmachenden »Wirken des göttlichen Geistes im Menschen«: Das »Leben des Lebewesens« Mensch, biblisch »Seele« genannt, vollziehe sich im »Überschreiten des eigenen leiblichen Daseins« vermöge des Geistes, der es »über seine Endlichkeit erhebt«, zu guter Letzt zu Gott.7 Paul Tillich meinte, das Wort »Seele« habe »seinen Nutzen für die allgemeine wie auch für die theologische Beschreibung des Menschen verloren«; er bezog »Leidenschaft und Gefühl«, die früher der Seele zugeschrieben wurden, in den »Geist als eine Dimension des Lebens« ein und reservierte die Seele nur noch für die Dichtung.8

Innerkirchlich ist eine wachsende Abneigung gegen das Wort »Seele« zu beobachten, motiviert von einem diffusen Verdacht auf Pflege einer Innerlichkeit, der unterstellt wird, sich einzig und allein um ihr »Seelenheil« – gemeint ist wohl: die Unversehrtheit der erlösten Seele, ihr ewiges Wohlergehen – zu kümmern, nicht aber um leibhafte Sorgen und Nöte, der eigenen wie der anderer. Dieser Verdacht hat in den letzten fünfzig Jahren unter Einfluss der vorherrschenden Sozialethik auf die gesamte Theologie und auf die kirchliche Praxis übergegriffen und fügt sich mühelos in die weitverbreitete Umprägung der Seele zum Movens menschlicher Lebensbewältigung ein.

Das Verständnis der Seele in der »Seelsorge« wäre ein Kapitel für sich. Von ihr wäre doch wohl zu erwarten, dass sie Spezifisches von der Seele zu sagen weiß: von ihrer Empfänglichkeit und Bedürftigkeit, dem Raubbau, der an ihr getrieben wird, der Anfechtung, der sie ausgesetzt ist, den Verstrickungen, die sie fesseln, und dem Trost, der ihr zugesprochen wird. In der Theorie der Seelsorge zeigt sich indessen, dass »Seele« jedenfalls hier zu einer Worthülse geworden ist, die Notlagen und Krisen Hilfsbedürftiger anzeigt, denen empathisch beigestanden und durch Reaktivierung verbliebener religiöser Reserven, vor allem aber durch Fürsorge, aufgeholfen werden soll.9

In der heutigen Seelsorgelehre und -praxis dient »Seele« am ehesten noch als Schutzbegriff gegen kräfteverzehrende Überforderungen in der Leistungsgesellschaft und als vielleicht letzte Bastion zur Verteidigung der Humanität: des menschlichen Lebens, wie es weder bildgebend erfasst, noch in Funktionen zerlegt werden kann. »Seele« soll den Mehrwert des Humanum repräsentieren, auch gegenüber verstiegenen Ansprüchen von Menschen an sich selber und an andere, nach der Devise: »Jeder Mensch ist mehr als das, was er aus sich machen kann.« Dieses Residuum der Menschlichkeit, so heißt es, verdiene unser aller Besorgnis und Sorge, und die Seelsorge verstehe sich als berufen, für dieses Reservat einzustehen, damit sie Gottes Menschenfreundlichkeit mitteilen könne. Eine Seele umsorgen könne nicht besorgt werden. Seelsorge als fürsorgliche Zuwendung zu äußerlich und innerlich bedrängten Mitmenschen sei auf humane Ganzheit bedacht und wolle nicht versehrte Funktionen wiederherstellen oder prothetisch ausgleichen, sondern Mut machen, aus den zu wenig genutzten eigenen Kräfte zu schöpfen und die Deutungshoheit über die eigene Lebensführung wiederzuerlangen. Dafür verlange sie einen anderen Blick auf den Menschen, auf seine Einzigartigkeit, die auch anders als bei der Untersuchung eines »Falles« angesprochen werden wolle. Nur dann könnten Menschen auch wirklich antworten, statt nur Auskunft über Symptome eigener Beschwernisse zu geben. Was früher einmal als »Seele« zur Sonderstellung des Menschen unter den Lebewesen gezählt wurde, wäre am ehesten als Kommunikationsfähigkeit zu verstehen, die das personale Ich, das Selbst, auszeichnet, das sich anreden lässt, darauf antwortet, sich verantwortet und Verantwortung übernimmt. Hier könne Seelsorge, wenn sie Gehör zu finden versteht, auch vom Nächsten und von Gott sprechen – und sich so von einer rein therapeutischen Beratung unterscheiden.

Verschwindet die Seele allmählich aus der Sprache des christlichen Glaubens? Bei der missglückten Revision der Luther-Übersetzung des Neuen Testaments im Jahre 1975 sollte »Seele« als vermeintlich nicht mehr angemessen und weithin unverständlich durch »Selbst« ausgetauscht werden. Dieser Gewaltstreich konnte damals noch abgewehrt werden; doch inzwischen sind die Stimmen derer, die »Seele« aus der Glaubenssprache verabschieden wollen, einflussreicher geworden. »Seele« gilt nicht mehr nur als farblos gewordene Vokabel, sondern als irreführende Bezeichnung für ein Element menschlicher Lebendigkeit. Welcher Platz ihr innerhalb eines Gesamtverständnisses des Menschseins gebührt, sei fraglich geworden. Darauf muss hier eingegangen werden, gerade wenn es zunächst nur als Übersetzungsproblem behandelt wird.

In früheren deutschen Übersetzungen des Alten Testaments wurde mit »Seele« überwiegend das Nomen næpæš (nefesch) wiedergegeben. Dessen Grundbedeutung ist »Kehle« (Num 11,6), an der der Atem ein- und ausströmt.10 Die Bedeutung »Atem« (Gen 1,30) kann von dem zugehörigen Verb npš »aufatmen« abgeleitet werden.11 Der strömende Atem erhält – wie das Blut (Dtn 12,23) – Mensch und Tier am Leben (»es atmet mich«) und hält Leben in Gang. Darum kann mit næpæš die »Lebensfähigkeit« oder ein »Lebewesen« gemeint sein. Beim Menschen steht næpæš in der Regel für das gelebte Leben, im Gegensatz zum Tod – Tod als jede Form der Lebensbedrohung, nicht (nur) als Ableben. Wegen ihrer personalen Note wird næpæš pronominal verwendet (»meine Seele«: »ich«). Im Sinne von »Person« kann næpæš auch für Zählungen eingesetzt werden. Als Atemorgan heißt næpæš die Kehle, die Gurgel, der atmend geöffnete Schlund, im übertragenen Sinne das Begehren und Verlangen,12 die Sehnsucht, das »Lechzen nach« (Ps 42,3), der Appetit: Anzeichen menschlicher Bedürftigkeit, die gleichsam in die rechte Schwingung versetzt werden muss, damit sie sich nicht durch falsche Zielsetzungen verleiten lässt und daran scheitert.

In der neueren alttestamentlichen Wissenschaft gilt die Übersetzung von næpæš mit »Seele« meistens als unzutreffend oder zumindest als missverständlich, abgesehen von wenigen Texten, die Stimmungen schildern, meist düstere: Die næpæš fühlt sich beengt und bedrückt, ist beklommen, traurig, verzagt. Oder sie vermisst, was sie begehrt, was sie dringend braucht, und darum drängt sie danach, es an sich zu bringen, manchmal geradezu zu verschlingen.13 In der Regel bezeichne næpæš »das Vitale am Menschen im weitesten Sinne«. »Da der Hebräer die geistigen Funktionen von den vitalen des Körpers (bsr) nicht getrennt hat, sollte man von der Übersetzung dieses Wortes mit ›Seele‹, wenn irgend möglich, Abstand nehmen.«14 Diese Direktive Gerhard von Rads ist allzu eifrig befolgt worden. Überspitzt gesagt: Mit philological correctness sollte »Seele« aus der Bibelübersetzung und damit aus einem maßgeblichen Bereich der christlichen Glaubenssprache vertrieben werden. Damit mochte nicht nur eine Weichenstellung für das biblische Reden vom Menschen vollzogen werden; auch ein Sprachverlust bei der Übersetzung wurde hingenommen.

Wie aber kann næpæš nun übersetzt, wie anthropologisch verstanden werden? Als Austausch für »Seele« vorgeschlagen werden »Vitalität«15, »sprudelnde Lebensenergie«16, »individuierte Lebendigkeit«17, »lebendiges Selbst«18, »vitales Selbst«19 oder auch »das Selbst«, das »auf etwas aus ist«20. Diese Begriffe und Umschreibungen sind nur annähernd synonym; sie sind auch dermaßen voraussetzungsreich und anspruchsvoll, dass sie eingehend erklärt werden müssten,...