EVERY BODY - Eine faszinierende Reise durch unsere Welt der sexuellen Lust und Identität

EVERY BODY - Eine faszinierende Reise durch unsere Welt der sexuellen Lust und Identität

von: Julia Rothman, Shaina Feinberg

Mosaik bei Goldmann, 2021

ISBN: 9783641280802 , 304 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 12,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

EVERY BODY - Eine faszinierende Reise durch unsere Welt der sexuellen Lust und Identität


 



Essay

DIE SCHMUTZIGE ERDE JESU


von ELNA BAKER


Meine Initialzündung war die Dokumentation The Devil’s Playground über Amish-Jugendliche, die mit sechzehn in eine Phase ihres Lebens eintreten, die sie Rumspringa nennen. Dabei stürzen sie sich kopfüber ins Leben und tun, was ihnen in den Sinn kommt, ohne dass das im Hinblick auf ihre Religion irgendwelche Konsequenzen hätte. Spontan beschloss ich, mir eine einjährige Auszeit von meinem Leben als Mormonin zu nehmen (bei denen das im Gegensatz zu den Amish definitiv nicht vorgesehen oder gar erlaubt ist). Trotzdem sah ich es als einzige Möglichkeit herauszufinden, was so etwas mit einem macht – indem ich meiner Religion für eine Weile den Rücken kehrte und danach wieder Teil davon wurde.

Mein Plan war, es so richtig krachen zu lassen; ich hatte sogar eine Liste von Männern, mit denen ich unbedingt schlafen wollte. Doch sobald ich die Freiheit vor der Nase hatte, konnte ich mich nicht überwinden, sie mir auch zu nehmen. Es war, als sei ich von einem unsichtbaren elektrischen Zaun umgeben: Je näher ich kam, umso schlimmer war die Lähmung. Vor allem im Hinblick auf Sex.

Im mormonischen Glauben gilt Sex vor der Ehe als die zweitschlimmste Sünde nach Mord – mit der Androhung, dass man im Jenseits nicht mit der Familie vereint sein wird, wenn man sich dazu hinreißen lässt. Ich hatte zwar schon erste sexuelle Erfahrungen gesammelt, die allerdings nie über harmloses Fummeln hinausgegangen waren – und dieses eine Mal, als der Nachbarsjunge meinen Schritt durch den Stoff meiner Schlafanzughose geküsst und ich einen Orgasmus bekommen hatte.

In den ersten Monaten meiner Auszeit wurde ich Stammgast in einer kleinen Bar namens Beatrice. Alle paar Tage war ich dort, gabelte einen Typen auf und ging mit zu ihm nach Hause, um ein bisschen rumzumachen. Ich wollte mehr. Die Typen auch. Ich saß da, starrte auf die Beule in ihrer Hose und überlegte, ob ich sie anfassen sollte. Aber es erschien mir so primitiv. Unangemessen. Also tat ich gar nichts. Es war so eine Mischung aus religiösem Ballast – was ich hier tue, ist so schlimm wie Mord, ich werde meine Familie für immer verlieren – und gewöhnlicher Unsicherheit. Ich hatte Angst, dass ich es nicht hinkriege. Damals war ich siebenundzwanzig, ein Alter, in dem alle von einem erwarten, dass man sexuell erfahren ist. Die Typen konnten ja nicht wissen, dass ich das alles zum ersten Mal tat. Ob Sex, einen blasen oder einen runterholen, die Typen würden automatisch denken, ich hätte es schlicht nicht drauf. Die Krux war, dass mich genau diese Angst vor meiner eigenen Unerfahrenheit daran hinderte, Erfahrungen zu sammeln. Zwar rückte ich näher und näher an Typ und an Schwanz heran, nur um am Ende zu kneifen und einen Abgang zu machen.

Monatelang ging das so, bis ich mich meiner Freundin Andy anvertraute.

»Ich habe einen guten Freund, der bis Mitte zwanzig orthodoxer Jude war, dann aber ausgestiegen ist«, meinte sie. »Ihm erging es ähnlich wie dir. Ich stelle euch einander vor, dann könnt ihr in Ruhe über alles reden. Bestimmt kann er dir weiterhelfen.«

Ich traf mich mit David in einem kleinen italienischen Kellerrestaurant im West Village. Auf den Tischen brannten Kerzen, und es herrschte eine intime, beinahe erotische Atmosphäre. Außerdem war David echt süß. Schon im Vorfeld hatte ich ihn gegoogelt, allerdings war er im wahren Leben noch attraktiver und strahlte eine tolle Energie aus – souverän und voller Selbstsicherheit. Ich hatte im Internet einige Artikel von ihm gelesen und gesehen, dass er ein talentierter Autor war, was ihn älter und cooler wirken ließ. Trotzdem fühlte ich mich in seiner Gegenwart auf Anhieb wohl. In den folgenden zwei Stunden erzählte er mir von seinem Entschluss, seiner Religion den Rücken zu kehren, und fragte mich, wie es mir so gehe.

Ich erzählte ihm von meiner Befürchtung, meine Familie könnte es herausfinden und es würde ihnen das Herz brechen, und auch von meiner Angst, eine Entscheidung zu treffen, die ich nicht rückgängig machen konnte, was mich zu diesem Zeitpunkt am meisten lähmte.

»Mir ging es nach meinem Ausstieg ganz genauso«, meinte er. »Wie lange bist du schon raus?«

»Seit etwa fünf Monaten«, antwortete ich, wobei ich unterschlug, dass ich in Wahrheit keineswegs »raus« war.

»Dann bist du genau an dem Punkt, an dem du sein solltest. Es dauert eben länger als gedacht, um dich an die Veränderung zu gewöhnen. Aber hab Geduld mit dir, es besteht keinerlei Grund, dich unter Druck zu setzen.«

»Mag sein, aber ich habe ja bloß ein Jahr Zeit.«

»Wie meinst du das?«

Also beugte ich mich vor, sah in seine braunen Augen, in denen sich der Kerzenschein spiegelte, und schilderte ihm meinen Plan vom Rumspringa und der Rückkehr in die mormonische Gemeinschaft am Ende des Jahres. Er fand das amüsant.

»Du nimmst dir also eine religiöse Auszeit.«

»Genau.«

»Und was hast du bisher so getan?«

»Was meinst du?«

»Hast du Alkohol getrunken?«

»Nein.«

»Was ist mit Drogen? Hast du Drogen ausprobiert?«

»Nein.«

»Und Sex? Hattest du Sex?«

Ich sah ihm zögernd in die Augen. »Ehrliche Antwort? Ich habe keine Ahnung, was ich mit einem Penis anfangen soll.«

Er zuckte mit keiner Wimper. Und dann sah er mir tief in die Augen und sagte: »Soll ich es dir zeigen?« Aus seinem Mund klang es wie eine Art Dienst an der Gemeinschaft, den alle ehemals religiösen Menschen leisten müssen.

Ich biss mir auf die Lippe. Ich glaube, das war das Erotischste, was mir je im Leben passiert war.

»Ja.«

Zehn Minuten später standen wir auf der Straße, er winkte ein Taxi heran, mit dem wir zu mir nach Hause fuhren. Nervös saßen wir nebeneinander auf dem Sofa, bei voller Beleuchtung, die Augen auf die Wand vor uns geheftet.

»Aber du hast schon mal einen Penis gesehen, oder?«, fragte er.

»Ja«, antwortete ich mit einer Spur zu viel Entschiedenheit, um wirklich glaubhaft zu wirken. Dabei stimmt es. Na ja, mehr oder weniger. Ich hatte schon mal Babys die Windeln gewechselt. Also … Säuglingspenisse. Ich hatte die Penisse kleiner Jungs gesehen.

Und jetzt war der große Moment gekommen – gleich sollte ich einen richtigen Männerpenis zu sehen kriegen. Ich versuchte, mich innerlich darauf einzustellen, um das richtige Gesicht zu machen … dabei hatte ich keine Ahnung, was das richtige Gesicht überhaupt war. David wandte sich mir zu und warf mir einen Blick à la »Bist du bereit?« zu, worauf ich nickte. Er zog den Reißverschluss seiner Hose herunter, griff in seine Unterhose und holte seinen Schwanz heraus. Ich betrachtete ihn mit weit aufgerissenen Augen.

»Der ist ja so groß«, platzte ich heraus. (Was auch stimmte. Im Vergleich zu … einem Säuglingspenis.)

»Wow. Du machst das echt gut«, meinte er.

Es folgte eine Mischung aus erotischer Begegnung und nüchterner Lehrstunde, in der David mir seinen Penis näherbrachte. »Der Teil hier ist die Eichel, das ist der Schaft, und das sind die Hoden«, meinte er und deutete dabei auf den jeweiligen Teil seiner Anatomie.

»Die darf man nicht anfassen«, sagte ich. Die Erkenntnis hatte ich bei Die witzigsten Homevideos gewonnen: Trat man einen Mann zwischen die Beine, stöhnte er und krümmte sich vor Schmerz. Daher schienen die Hoden tabu zu sein.

»Nein, man kann sie durchaus berühren.« Er nahm meine Hand und legte sie darauf.

»Die sind ja ganz weich«, sagte ich. »Wie ein Vogelküken.«

Wir zuckten beide zurück.

Ich hob die Hand, ließ sie einen Moment lang direkt über seinem Schwanz schweben. Eigentlich wollte ich ihn gern anfassen, hatte aber Angst.

»Es ist okay«, sagte er. »Du kannst ihn ruhig berühren.«

Behutsam stupste ich ihn mit dem Finger an, so wie man jemandem einen Klecks Ketschup abwischt, den man nicht gut kennt: freundlich, aber mit Vorsicht.

»Komm.« Er nahm meine Hand und legte sie um das Schaftende. »Du kannst ruhig kräftiger zudrücken.« Er legte seine Hand um die meine, um mir den richtigen Druck zu zeigen, dann löste er sie, und ich schloss die Finger fester darum.

»Nicht ganz so fest«, meinte er. Am liebsten wäre ich vor Scham im Erdboden versunken.

»Es fühlt sich sehr schön an, wenn du die Hand auf und ab bewegst, aber er muss feucht sein.«

David spuckte auf seine Hand … jede Menge Speichel, den er auf seinem Penis verteilte. Ich hatte Mühe, meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten. Wie bitte? Du spuckst auf deinen Penis?

Wieder nahm er meine Hand in seine und zeigte mir, mit welcher Geschwindigkeit und welchem Druck ich seinen Schwanz streicheln konnte. Nach etwa einer Minute nahm er die Hand erneut weg und ließ mich allein weitermachen, wobei er immer wieder eingriff, damit ich den Rhythmus beibehielt. Es war ein bisschen so, als würde man fliegen lernen und das erste Mal selbst den Steuerknüppel bewegen.

»Ja, genau so ist es gut«, ermutigte er mich. »Und jetzt ein bisschen schneller.« Meine Hand glitt auf und ab, während ich daran dachte, was für eine seltsame Situation das hier war. Wir hatten uns noch nicht einmal geküsst. Ich beugte mich vor, und wir küssten uns. Unsere Zungen bewegten sich im Rhythmus der Bewegungen meiner Hand. Schließlich löste ich mich und sah in seine großen braunen Augen.

»Gehen die Schuldgefühle jemals weg?«, fragte ich. Sowie die Worte über meine Lippen kamen, wusste ich, dass es...