Der lange Atem der Bäume - Wie Bäume lernen, mit dem Klimawandel umzugehen - und warum der Wald uns retten wird, wenn wir es zulassen

Der lange Atem der Bäume - Wie Bäume lernen, mit dem Klimawandel umzugehen - und warum der Wald uns retten wird, wenn wir es zulassen

von: Peter Wohlleben

Ludwig, 2021

ISBN: 9783641207052 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Der lange Atem der Bäume - Wie Bäume lernen, mit dem Klimawandel umzugehen - und warum der Wald uns retten wird, wenn wir es zulassen


 

Wenn Bäume irren

Bäume werden in trocken-heißen Sommern vor große Probleme gestellt. Sie können nicht in den Schatten flüchten, können keinen kühlen Schluck zu sich nehmen, und ein schnelles Reagieren funktioniert schon gar nicht. Und weil Bäume so langsam sind, ist es umso wichtiger, sich für die richtige Strategie zu entscheiden. Doch was ist die richtige Strategie, und was passiert, wenn sich ein Baum irrt?

In der Nordstraße in Wershofen, dem Standort unserer Waldakademie in der Eifel, säumt eine Reihe von Rosskastanien die linke Straßenseite. Diese Rosskastanien verhielten sich im Dürresommer 2020 so wie viele Bäume in Europa: Sie fingen im August an, ihr Laub vorzeitig herbstlich zu verfärben. Dabei haben es Rosskastanien seit Jahren ohnehin besonders schwer. Kurz vor dem Jahr 2000 hatte die sich nach Norden ausbreitende Kastanienminiermotte auch die Wershofener Bäume erreicht.

Dieser kleine, hellbraune Schmetterling stammt aus Griechenland und Mazedonien, also aus der ursprünglichen Heimat der Rosskastanie. Wie viele andere importierte Gewächse auch führten die Rosskastanien in Wershofen bisher ein idyllisches Leben. Zwar entsprechen Länder wie Deutschland nicht unbedingt dem perfekten Ökosystem für diese Bäume, weil es hier einfach ein bisschen zu kalt ist. Dennoch haben sich die Kastanien bei uns immer pudelwohl gefühlt. Ihre Parasiten hatten sich bisher nicht bis zu dem neuen Standort ausgebreitet, und für ein Leben ohne die Miniermotte darf es ruhig im Winter ein bisschen kühler sein.

Doch vor 40 Jahren begann sich die Situation zu ändern: Seitdem folgen die Fluginsekten ihrer Beute in den Norden und haben sich längst auch in Wershofen niedergelassen. Die Miniermotten machen, was ihr Name nahelegt: Ihre Raupen fressen Gänge (oder Minen) in die Blätter. Dazu legt die Motte Eier auf die Oberfläche, und die schlüpfenden Raupen bohren sich ein. Kleine braune Schlängellinien zeigen, wo die Schmetterlingskinder munter vor sich hin fressen. Munter deshalb, weil sie in den Blättern gut geschützt vor hungrigen Vögeln leben. Die ausgehöhlten Stellen vertrocknen, und mit fortschreitendem Fraß sieht das Laub im Laufe des Sommers immer ramponierter aus, zumal der ersten Eiablage oft noch eine zweite folgt.

Die Blätter der Bäume an der Nordstraße waren also schon vorgeschädigt, als die Dürre im Gefolge von etlichen heißen Tagen zuschlug. Kastanien reagieren in solchen Situationen wie alle anderen Bäume auch: Sie stellen erst einmal die Fotosynthese ein und warten ab. Wie lange so eine Trockenperiode dauert, wissen Bäume noch weniger als wir, und deshalb ist es sinnvoll, nicht gleich in Panik zu verfallen.

Zunächst schließen sie ihre Abertausenden winzigen Münder, die Spaltöffnungen, die an der Unterseite der Blätter sitzen. Mit ihnen atmen die Bäume, genau wie wir, und genau wie wir verlieren sie bei der Atmung Wasserdampf. Er kühlt die Umgebung, und dieser Effekt wird von den grünen Giganten durchaus aktiv eingesetzt, um heiße Sommertage erträglicher zu machen. Wenn die Wurzeln allerdings signalisieren, dass der Nachschub ausbleibt, werden die unzähligen Münder im Laub geschlossen. Doch ohne Atmung der Blätter funktioniert die Fotosynthese nicht mehr, versiegt natürlich auch der Nachschub an CO2, weshalb die Zuckerproduktion unter Zuhilfenahme des Sonnenlichts nicht mehr möglich ist. Nun zehren die Bäume von ihren Reserven, die sie eigentlich für den kommenden Winterschlaf aufbauen wollten.

Eine minimale Verdunstung findet aber trotzdem noch über Blätter, Wurzeln und Rinde statt, und wenn die Trockenheit weiter andauert, folgt die zweite Maßnahme: Ein Teil der Blätter wird abgeworfen. Dabei gehen die Kastanien wie ihre übrigen belaubten Kollegen von oben nach unten vor. Zuerst fallen die von der Wurzel am weitesten entfernten Blätter, also die in den Kronenspitzen. Wasser bis dort oben zu transportieren kostet besonders viel Energie, die der Baum jetzt sparsam einsetzen muss, da er keinen Nachschub mehr produzieren kann. Reicht das jedoch nicht und fällt noch immer kein Wasser vom Himmel, werden die Blätter schrittweise immer weiter abgestoßen, bis die Bäume schließlich schon im August völlig kahl sind.

So weit haben es bei uns im Jahr 2020 aber weder Buchen, Eichen noch die Kastanien kommen lassen – bis auf ein paar wenige Ausnahmen. Vielleicht waren das Bäume, die besonders ängstlich sind und einfach auf Nummer sicher gehen wollten, vielleicht stehen sie auch auf einem Fleckchen Boden, das besonders wenig Wasser speichert; wie auch immer, sie waren im August komplett kahl.

Gerade die Kastanien konnten sich das eigentlich nicht leisten, waren sie doch durch die Miniermotte ohnehin schon vorgeschwächt. Die Blätter mit den vielen bräunlichen Fraßstellen bildeten nur eingeschränkt Zucker, sodass die Bäume ohnehin schon hungerten. Dazu kommt die Höhenlage, in der sie stehen: Rund 600 Meter über dem Meeresspiegel liegt die Nordstraße, und die raue Eifel tut ihr Übriges, sodass die Vegetationsperiode recht kurz bleibt. Für die Zuckerbildung ist das recht knapp, denn sie muss mindestens in solchen Mengen möglich sein, dass es nicht nur für den laufenden Betrieb, sondern auch für den Winterschlaf und den folgenden Frühjahrsstart reicht. Das ist für die Kastanien unter solchen Bedingungen fern der alten Heimat ohnehin nur schwer zu erreichen. Und nun kam der dritte trockene Sommer in Folge dazu, indem offenbar die allerletzten Wasserreserven im Boden aufgebraucht waren.

Unter normalen Umständen können Bäume in einer solchen Situation einfach den Winterschlaf auf September vorziehen und alles Laub fallen lassen, wie es typischerweise die Buchen in meinem Revier machen. Sie sehen zwar tot aus, treiben aber im nächsten Frühjahr wieder aus und versuchen nachzuholen, was sie im Jahr zuvor versäumt haben. Auch Kastanien können das schaffen, aber die ängstlichen, schon im August 2020 laublosen Exemplare hatten diese Strategie definitiv zu früh eingesetzt.

Am 31. August hatte der Wettergott ein Einsehen. Der Himmel verdunkelte sich, allerdings nur über einer kleinen Region am Nordrand der Eifel. Hier regneten sich die Wolken stundenlang ab und hinterließen dabei rund 60 Liter Wasser pro Quadratmeter. Für die ausgedörrten Böden war dies zwar noch lange nicht genug, aber immerhin wurden so die obersten Zentimeter wieder etwas befeuchtet. Ich hoffte, dass es ausreichte, um den Bäumen eine Verschnaufpause zu verschaffen. In den folgenden Tagen zeigten die kahlen Kastanien jedoch eine Reaktion, die mich überraschte und auf den ersten Blick völlig unsinnig schien: Sie fingen an zu blühen. Wer zu wenig Zucker hat, sollte eigentlich nicht noch zusätzliche Energie für die Fortpflanzung verschwenden, zumal diese im Herbst zu keinem Ergebnis führt. Selbst wenn die Blüten noch bestäubt werden, können sich in der Kürze der Zeit bis zum Wintereinbruch keine Samen und Früchte mehr entwickeln.

Eine Gruppe von angehenden Waldführern, mit denen ich auf dem Rückweg zum Akademiegebäude war, machte mich auf das Phänomen aufmerksam. Wir schauten genauer hin und wurden gleich fündig. Zusammen mit den Blüten hatten die Bäume auch zarte Blätter hervorgebracht, und das war des Rätsels Lösung. Die Kastanien hatten unbändigen Hunger! Mit dem frischen Grün an den Zweigen tankten sie im Spätsommer noch einmal ordentlich Zucker und füllten ihr Speichergewebe. Offenbar können Bäume dabei nicht unterscheiden, ob sie nur die Blattknospen eines Zweiges austreiben oder alle Knospen inklusive der Blüten, und genau das war hier zu beobachten.

Ich drehte ein kleines Handyvideo für meine Facebook-Seite und stellte es dort zur Diskussion. Und siehe da: Auch andernorts verfolgten etliche Kastanien offenbar dieselbe Strategie. Eine Internetrecherche ergab, dass vereinzelte Rosskastanien bereits in den Vorjahren herbstliche Blüten gezeigt hatten, doch die Erklärungen fand ich teilweise nicht besonders überzeugend. Es sei der Stress durch Klimawandel, den Befall mit Miniermotten und auch Pilzen, der die Bäume an den Rand ihrer Existenz brächte. Um sich vor ihrem Ableben schnell noch einmal zu vermehren, würden die Bäume auch im Herbst noch einmal blühen.1

Zunächst mag das logisch klingen, doch es setzt voraus, dass ein Baum keine Jahreszeiten einschätzen kann. Denn Blüten im Herbst bringen selbstverständlich keine Früchte hervor, weil die wenigen Wochen bis zum Winter dazu nicht ansatzweise ausreichen. Wer solch einen Unsinn macht, vergeudet zusätzliche Energie und vergrößert damit die Misere. Die Forschung weiß zudem seit Jahrzehnten, dass sich Bäume in ihrem Verhalten nach der Tageslänge und der Temperatur ausrichten, sich im Jahreslauf also exakt so orientieren, wie es auch wir ohne Kalender vermögen. Und genau hier setzt die nächste merkwürdige Erklärung an: Die Kastanien kämen im Jahreskalender durcheinander.2 Die sommerliche Trockenzeit mit Unterbrechung der Wasseraufnahme und damit auch der Fotosynthese müsste die Bäume demnach so verwirren, dass sie beim herbstlichen Regenfall meinten, nun sei es wieder Frühling.

Diese Schlussfolgerung ist mehr als absurd, denn da hätte wohl auch die Evolution noch ein Wörtchen mitzureden. Wenn Rosskastanien sich so leicht verwirren lassen könnten, und das trotz des natürlichen Phänomens, dass es mindestens alle paar Jahrzehnte einen Dürresommer gibt, wie konnten die Bäume dann mehr als 30 Millionen Jahre überleben? Denn wer regelmäßig solche unsinnigen Energieausgaben tätigt, der ist im Krisenfall zu schwach und verabschiedet sich aus dem Reigen des...