Tränen ohne Trauer - Nach der Erinnerungskultur

Tränen ohne Trauer - Nach der Erinnerungskultur

von: Per Leo

Klett-Cotta, 2021

ISBN: 9783608116649 , 272 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 15,99 EUR

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Tränen ohne Trauer - Nach der Erinnerungskultur


 

Vom Abgrund


Vom Nationalsozialismus wird in Deutschland oft maßlos, selten genau gesprochen. Die Beliebigkeit des alltäglichen Geredes und die Vermessenheit seines Anspruchs stehen jedenfalls in keinem Verhältnis zu Wissen und Problembewusstsein, zu Urteilskraft und Sorgfalt, den vereinten Kräften, die ein historischer Gegenstand von solchem Gewicht eigentlich erforderte. Wer aber die Tugenden der Historie nicht kennt, wird gar nicht merken, dass er sich an der Geschichte verhebt. Es ist gute Sitte in unserem Land, mit dem Nationalsozialismus hundertmal auf andere zu zeigen, bevor man auch nur die komplizierte Frage ahnt, was er womöglich mit einem selbst zu tun haben könnte. An Hitler waren vor allem Hitler und der Nachbar schuld, und Auschwitz würde man den Juden nie verzeihen.[1] Wo nach dem Krieg kein Deutscher ein Nazi gewesen sein wollte, da versteht man sich mittlerweile so gut auf die Kunst des nachträglichen Ungehorsams, dass Linke wie Rechte, Liberale wie Autoritäre einander darin überbieten, heroischen Widerstand gegen den Anbruch des Vierten Reichs zu leisten. Und wenn das Heimischwerden syrischer Kriegsflüchtlinge auch daran scheitern kann, dass man ihnen voller Stolz ihr neues Land in einer KZ-Gedenkstätte vorstellt, dann kann es ein Zeichen gelungener Integration sein, dass ein »Migrationshintergründler« gelernt hat, nach zehn Minuten Internetrecherche den »Nazihintergrund« einer »biodeutschen« Mitbürgerin bloßzustellen.[2]

Es gibt für die Leichtfertigkeit, mit der wir uns auf den Nationalsozialismus beziehen, und die damit verbundene Unempfindlichkeit gegen die Schwerkraft des Historischen nachvollziehbare Gründe. Dass es in Deutschland irgendwann leichter wurde, über die Verbrechen des Dritten Reichs zu sprechen, war ein Fortschritt, nachdem man sich lange sehr schwer damit getan hatte. Aber heute ist es umgekehrt. Das entschiedene Nein zu Hitler ist so leicht zu haben, dass es schwerfällt, dankend abzulehnen. Musste vor 40 Jahren die schuldbelastete Vergangenheit aus ihrem Panzer gebrochen werden, liegt das Problem nun eher in ihrer schamlosen Zudringlichkeit. Um es auf den Begriff zu bringen, wäre allerdings ein Maßstab nötig, mit dem sich eben nicht die Vergangenheit selbst, sondern unser Verhältnis zu ihr beurteilen ließe. Zum Glück gibt es ihn schon seit fast 150 Jahren.

Friedrich Nietzsche hat das zweite Stück seiner »Unzeitgemäßen Betrachtungen« unter den Titel Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben gestellt. Die damit angesprochene Leitfrage, wann der Umgang mit der Geschichte hilft und wann er schadet, ist auch die meine. Und sie sollte die unsere sein. Weil aber zum »Leben« die Vielfalt und der Wandel gehören, kann es auf diese Frage keine pauschale Antwort geben. Sie lässt sich immer nur mit Blick auf eine konkrete Lage und daher vergleichend stellen. Bekanntlich hat Nietzsche zu diesem Zweck eine Typologie der Haltungen entworfen, mit denen ein Mensch, ein Staat oder eine Kultur sich die Vergangenheit dienstbar machen kann: Es gibt eine monumentale Historie, die durch Erinnerung an große Vorbilder zum Handeln ermutigt; eine antiquarische Historie, die sich der Pflege eines lebendigen Erbes verschreibt; und eine kritische Historie, die über eine belastete Geschichte wacht, um sie auf Abstand zu halten. So wie alle Arten der Historie ihre Berechtigung haben und auch nebeneinander bestehen können, so muss jede von ihnen sich die Frage gefallen lassen, ob sie hier und jetzt eher schadet oder nützt. Was gestern angemessen war, kann heute maßlos sein, was in der einen Hinsicht zu wenig ist, kann in der anderen zu viel sein. Alles hat seine Zeit und seinen Ort, auch die Historie – wenn sie dem Leben dienen soll.

Da Nietzsche das Leben aber nicht, wie es bald Mode werden sollte, als Kampf, sondern gut goetheanisch als Wachstum begreift, als Entfaltung einer Möglichkeit, ist auch das Maßgebot kein Aufruf zur Selbstverkleinerung, sondern im Gegenteil, ein Mittel zur Steigerung des eigenen Vermögens. Die Geschichte ist hier ebenso radikal von der Gegenwart her gedacht, wie diese auf eine Zukunft hin entworfen ist.

Seine eigene Zeit sah Nietzsche vor allem durch ein Übermaß an historischer Bildung gekennzeichnet. Weil sie die Phänomene der Vergangenheit »rein und vollständig erkennen« und in »ein Erkenntnisphänomen auflösen« wolle, gilt seine »unzeitgemäße« Kritik einer Historie, die den lebendigen Zusammenhang der Zeiten zerschnitten hat und dadurch die menschliche Entfaltung erschwert.[3] Das Selbstverhältnis der historischen Zeitlichkeit sei, so Nietzsche, einem Subjekt-Objekt-Verhältnis von forschender Gegenwart und erforschter Vergangenheit gewichen.

Unsere Lage ist eine ganz andere. Von einem Übermaß an historischer Bildung kann beim besten Willen keine Rede sein. Und doch ist die Vergangenheit in unserem Land oft auf eine so hemmungslose Weise präsent, dass sie allmählich, wie mir scheint, dessen Entfaltung hemmt. Hemmungen aber machen auf Dauer entweder verzagt – oder sie rufen starke polemische Affekte hervor.

Nietzsche war immerhin so zart, seinen Affekt gegen den Historismus als »quälende Empfindung« zu bezeichnen. Nun steht auch bei gütigster Betrachtung die Geschichtswissenschaft heute in einem weniger glänzenden Licht da als im späten 19. Jahrhundert (hier widerspricht meine Frau), und der Autor dieses Buchs ist leider nicht der wirkmächtigste Denker seiner Epoche, sondern nur einer von unzählig vielen Schriftstellern der Gegenwart (hier stimmt sie zu). Dies eingestanden, will er dann aber auch bekennen, dass er für sein Buch keine bessere Bezeichnung wüsste als die Nietzsches für das seine. Eine »Naturbeschreibung meiner Empfindung« nannte er es.[4]

Widerwillen und Missmut haben den bundesrepublikanischen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit von Anfang an begleitet, oft aus schlechten, doch manchmal auch aus guten Gründen. Originalität kann in dieser Hinsicht jedenfalls niemand reklamieren. Aber vielleicht ist es an der Zeit, die guten Gründe des Unbehagens etwas deutlicher, nicht unbedingt lauter, aber doch pointierter auszusprechen. Mit »revisionistischer« Absicht? Wenn die Infragestellung von Rechtsstaat, Demokratie und Westbindung gemeint ist, dann nicht. Wenn ein Ende der ernsthaften Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus gemeint ist, dann auch nicht. Aber wenn man es wörtlich versteht, als prüfenden Blick auf eine Geste deutscher Selbstgefälligkeit: dann schon.

»Unzeitgemäß«, schreibt Nietzsche drei Jahre nach der Reichsgründung, »ist diese Betrachtung, weil ich etwas, worauf die Zeit mit Recht stolz ist, ihre historische Bildung, hier einmal als Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit zu verstehen versuche, weil ich sogar glaube, daß wir alle an einem historischen Fieber leiden und erkennen sollten, daß wir daran leiden.«[5] Mit Blick auf den historischen Abgrund, an dessen Rand sie gegründet wurde, hat die Bundesrepublik ein unvermeidlich komplizierteres Verhältnis zu ihrer Vergangenheit entwickelt als das Kaiserreich zu der seinen. Der Geschichtsschaden unserer Zeit, auf den sie aber zugleich mit Recht stolz ist, lässt sich daher nicht auf einen einfachen Ausdruck bringen. Doch wer »historische Bildung« durch »monumentale Erinnerung an ein Großverbrechen, antiquarische Gleichgültigkeit gegen das Bewahrenswerte und kritische Furcht vor Wiederholung« ersetzt, der ahnt vielleicht, in welche Richtung dieses Buch sich aufmacht.

Und wie 1874 stammt auch 2021 die Diagnose des »historischen Fiebers« nicht nur von einem Historiker als Arzt, sondern auch von einem Patienten, der jedoch, wenn die Diagnostik mehr sein will als eitle Belehrung oder Nabelschau, eigentlich nur »wir alle« sein können. Wir bundesdeutsche Zeitgenossen. Weil aber am Ende jeder für sich selbst denken muss, wird man meine »Naturbeschreibung« vielleicht am besten verstehen, wenn man sie als persönliche Fieberkurve eines pandemischen Leidens betrachtet – unseres Leidens an der Geschichte. Er wolle, sagt Nietzsche, »gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit« wirken.[6] Und im Rahmen meiner eigenen, viel kleineren Möglichkeiten will ich das auch. Doch um den Verlauf eines Zeitfiebers zu notieren, muss man zuvor eine Tafel der eigenen Zeitlage erstellt haben. Darum wird es am Anfang dieses Buchs noch nicht um meine Affekthitze gehen, sondern um eine eher kühle Vermessung unseres historischen Koordinatensystems. Denn mehr noch als bei anderen Vergangenheiten brauchen wir, wenn es um den Nationalsozialismus geht, eine doppelte Zeitachse.

»Alle deutsche Geschichte«, schreibt...