Das schönste Gewerbe der Welt - Hinter den Kulissen der Modeindustrie

Das schönste Gewerbe der Welt - Hinter den Kulissen der Modeindustrie

von: Giulia Mensitieri

Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2021

ISBN: 9783751803519 , 336 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 17,99 EUR

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Das schönste Gewerbe der Welt - Hinter den Kulissen der Modeindustrie


 

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Das Begehren wecken: Presse und Werbung


Shooting Heidi


Bei einem unserer zahlreichen Gespräche auf Skype erzählt Mia mir, dass sie in der folgenden Woche bei einem Shooting mit »Supermodels«33 arbeite, eine »wirklich professionelle Sache mit Niveau«, die ich ihrer Meinung nach auf keinen Fall verpassen solle. Es handelt sich um eine Fotostrecke für Heidi34, ein Schweizer Frauenmagazin, und ein Video für dessen Webseite. Da Mia mir nicht die genaue Uhrzeit nennen kann, beschließen wir, dass ich am Vorabend bei ihr übernachte. Gegen 22 Uhr erhält sie eine E-Mail, in der ihr Agent sie über den Arbeitsbeginn informiert: 8:15 Uhr am nächsten Morgen. Dann teilen wir uns das Bett in der Wohnküche der Zweizimmerwohnung, die sie in La Chapelle mit Jaime mietet, der das andere Zimmer bewohnt.

Die Pressestellen der Labels, die in der Fotostrecke präsentiert werden sollen, schicken die von Mia ausgewählten Kleidungsstücke direkt ins Studio im 14. Arrondissement von Paris. So müssen wir uns nicht um den Transport der vielen Taschen kümmern. Um 7:30 Uhr steigen wir ins Taxi, genau zur Stoßzeit, wenn der Pariser Stadtverkehr zum Erliegen kommt. Wir sind spät dran, und Mia beginnt, den Fahrer auf Italienisch zu beschimpfen, weil er ihrer Meinung nach den falschen Weg gewählt hat. Luciana, die Fotografin des Shootings und ebenfalls Italienerin, ruft an und weist darauf hin, dass Mia zu spät dran sei und sich alle anderen schon vor Ort befänden. Die Personen, die bei einem Shooting etwas zu sagen haben, sind die Fotografin und die Stylistin. Sie arbeiten eng zusammen, und es ist üblich, dass das Magazin eine der beiden bestimmt und ihr die Auswahl einer Kollegin überlässt. Mia und Luciana haben bereits einige Male zusammengearbeitet. Ich verstehe Lucianas paternalistische Haltung Mia gegenüber so, dass dieses Mal sie es ist, die als Fotografin beauftragt wurde und Mia für die Zusammenarbeit ausgesucht hat.

Bei unserer Ankunft öffnet uns ein junger Mann um die zwanzig verlegen lächelnd die Tür und begleitet uns ins Studio. Trotz unserer »nur« zwanzigminütigen Verspätung ist schon einiges aufgebaut. Das Atelier erstreckt sich über zwei Etagen: Ein weitläufiger Raum dient als Fotostudio, Ankleide und Sitzecke, eine Hochebene wird als Maske genutzt. Mirjana, das fürs Video gebuchte Supermodel, wird gerade von der österreichischen Visagistin und der französischen Hairstylistin »zurechtgemacht«. Am Fuß der Treppe, wo sich die Garderobe befindet, hat Mias Assistentin Annie schon alle Taschen ausgepackt und die Kleidungsstücke nach Farben sortiert – und sicherlich auch nach anderen Kriterien, die sich mir nicht erschließen. Der Raum unter der Hochebene wird von einer Sitzecke mit einem großen, schwarzen Ledersofa und einem Beistelltisch aus getöntem Glas dominiert, auf dem ein großer Brotkorb mit nur mehr zwei Croissants steht. Wir haben uns verspätet, jedes Detail erinnert uns daran. Ich kenne niemanden und erlebe Mia das erste Mal in einer angespannten Arbeitssituation. Ich stelle mich Annie vor, die mit mir Italienisch spricht und erklärt, dass sie halb Italienerin und halb Französin sei und lange in Rom gelebt habe, und Riccardo, dem Fotoassistenten, ebenfalls Italiener, sowie der Fotografin selbst, die von meiner Anwesenheit irritiert zu sein scheint. Alle sind schwarz gekleidet, Jeans und Pullover, einschließlich Mia, nur dass sie ein voluminöses Haarband aus schwarzem Pelz trägt, was ihr eine exzentrische Note verleiht – und gut zu ihrer Persönlichkeit passt. Sie wendet sich den Kleidern zu und beginnt, sie zu begutachten, auszuwählen, zu kombinieren. Daraus entstehen die Outfits, die die Models tragen werden und die zusammen mit dem Make-up und der Frisur die sogenannten Looks ergeben.

Ich mache mir an der Nespresso-Maschine einen Kaffee und setze mich auf das Sofa. Auf der gegenüberliegenden Seite ist der Boden etwa bis zur Hälfte des Raums mit schwarzem Stoff bedeckt, der in die schwarz gestrichene Rückwand übergeht. Es handelt sich um den Hintergrund, vor dem die Models fotografiert werden, ein Dekor, das später von der Fotografin und ihrem Assistenten verändert und retuschiert wird. Zwischen dem schwarzen Stoff und dem Boden verlaufen dicke Kabel zum Stromaggregat und zu den Lampen. Alles, was es braucht, um den Traum zu erschaffen und erstrahlen zu lassen. Der Kameraassistent Riccardo stellt mithilfe des jungen Manns, der uns hereingelassen hat, die Scheinwerfer auf und regelt die Lichtstärke. Alles ist bereit.

Einige Minuten später kommt Mirjana die Treppe herunter. Ich habe sie noch nicht gesehen, am Vortag hat Mia sie mir ausführlich und mit vielen Komplimenten beschrieben: Es war ihr wichtig zu betonen, dass sie ein äußerst gutaussehendes Supermodel sei und zudem liebenswert, dass sie sehr gut verdiene und in einer großartigen Eigentumswohnung im 16. Arrondissement von Paris lebe. Von meinem Platz unter der Treppe erblicke ich als Erstes ihre Füße, die in kleinen weißen Pantoffeln stecken, wie man sie in guten Hotels den Gästen zur Verfügung stellt, und den Saum eines weißen Bademantels. Unten angelangt, begrüßt sie Mia herzlich, die sie »amore« nennt. Obwohl ich nur einen Meter entfernt sitze, würdigt sie mich keines Blickes und wendet mir den Rücken zu, um sich mit Mia zu unterhalten. In diesem Augenblick erinnert die Fotografin in schneidendem Ton daran, dass sie spät dran seien. Mia bittet daraufhin Annie, Mirjana das erste Outfit zu reichen, obwohl sie sich in unmittelbarer Nähe befindet und die Assistentin am anderen Ende des Raums.

Ohne Scham und ohne zu zögern, zieht Mirjana ihren Bademantel aus und zeigt sich quasi nackt. Erst später wird mir bewusst, dass diese Bewegung so »natürlich« wirkt, dass ich den Blick nicht abwende, um ihre Intimität zu wahren. Das allgemeine »Dispositiv« sorgt dafür, dass ich es mir erlaube, sie anzuschauen, als ob ihr Körper dafür da wäre. Sie trägt einen fleischfarbenen String, aus dem das blaue Bändchen eines Tampons hervorschaut. Außerdem medizinische Stützstrümpfe in derselben Farbe. Der Anblick eines skeletthaften und durch Strümpfe medizinisch unterstützten Körpers, dessen Blöße durch das Bändchen des Tampons noch verstärkt wird, steht im Kontrast zum Bild des Supermodels aus Mias Beschreibungen.

Ich habe widersprüchliche Gefühle: Während mir bewusst wird, dass in diesem Kontext die Nacktheit des Models absolut normal ist und die Betrachtung ihres Körpers zu den »Spielregeln« gehört, fühle ich mich auch irritiert von der Überfülle an Informationen über eine Person, mit der ich noch kein einziges Wort gewechselt habe. Der Anblick ihres nackten Körpers erzählt mir, dass sie ihre Periode und Durchblutungsstörungen hat. Ich schwanke zwischen einem Gefühl der Scham und einer für mich unbekannten Intimität und bekomme den Eindruck, dass der Körper, ihr Körper, vor allem ein Arbeitswerkzeug ist, das sie für die Produktion von Bildern zur Verfügung stellt.

Schließlich streift Mirjana die Kleider über, die Annie ihr bringt: ein fleischfarbener Body aus sehr feinem Stoff mit fast unsichtbaren Graunuancen und eine weite Hose aus hellbeiger, leicht schillernder, absolut durchsichtiger Seide. Mia erklärt mir, dass es sich um einen Nude-Look handele. Mirjana nimmt unter den Reflektoren Platz. Mia, Annie, die Hairstylistin und die Visagistin umringen sie, um die letzten Korrekturen vorzunehmen. Zum ersten Mal kann ich ihr Gesicht betrachten, allerdings ist es stark geschminkt. Ihre Gesichtszüge sind fein, ihre Augen hell und eiskalt. Sie strahlt eine Kälte aus, aber ich kann nicht sagen, ob das am Make-up liegt oder nicht. Als die Nachbesserungen abgeschlossen sind, richtet die Hairstylistin den riesigen Ventilator auf Mirjana, der ihr langes Haar, bestehend aus Echt- und Kunsthaar, und den Stoff ihrer Hose bewegen soll. Luciana nimmt mit ihrer großen Kamera vor ihr Platz.

Mirjana beginnt, sich verführerisch zu bewegen, während ihre Haare im künstlichen Wind flattern. Sie richtet ihre hellen Augen auf die Kamera und wirft ihr sinnliche Blicke zu, während sie sich über den Oberkörper streichelt und den in einem kräftigen Bordeaux geschminkten Mund leicht öffnet, dann schließt sie die Augen und deutet ein lustvolles Stöhnen an. Luciana liegt bäuchlings auf dem Boden, um Mirjana aus einem bestimmten Winkel fotografieren zu können. Hinter ihr verfolgen Mia, Annie, die Hairstylistin, die Visagistin und Riccardo die Darbietung aufmerksam und kommentieren Mirjanas Leistung. »Sie ist wirklich wunderbar«, sagt Mia. Die Visagistin wirft ihr einen gleichzeitig ernsten und verschwörerischen Blick zu und wendet ein: »Ja schon, aber sie hat zwei Kilo zugenommen. Sie muss abnehmen, das weiß sie …«

Auf Mirjanas Bitte wird ein rhythmischer Song eingespielt. Daraufhin tanzt sie für die Kamera, rekelt sich und geht dann mit weit geöffneten Beinen in die Hocke. Sie verharrt einige Sekunden in dieser Pose und schaut aufreizend in die Kamera, dann steht sie auf und streichelt sich die Innenseiten der Schenkel. Ich bin von ihrer...