Die Reise, die 300 Jahre dauerte - Schicksalswege einer deutschen Hugenotten-Familie

Die Reise, die 300 Jahre dauerte - Schicksalswege einer deutschen Hugenotten-Familie

von: Jochen Thies

BeBra Verlag, 2021

ISBN: 9783839301524 , 192 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Die Reise, die 300 Jahre dauerte - Schicksalswege einer deutschen Hugenotten-Familie


 

2 Flucht in die Uckermark


Schicksalstag 18. Oktober 1685


Am 18. Oktober 1685, einem Donnerstag, verändert sich die Welt für die Familie Tisse in Marck-en-Calaisis. Die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten sich: Die Widerrufung des Ediktes von Nantes durch Ludwig XIV. macht die Tisse zu Fremden im eigenen Land. Die Entwicklung hatte sich seit Jahren abgezeichnet, die Schikanen im Alltag hatten fortlaufend zugenommen, der Kirchenbesuch war erschwert worden. Möglicherweise hat Matthieu Tisse ein gewaltsamer Tod ereilt. Vielleicht ist an dieser Stelle ein Vergleich mit der Neuzeit nicht zu gewagt: Das Schicksal der französischen Hugenotten im Jahre 1685 weist erstaunliche Parallelen zum Schicksal der deutschen Juden zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 9. November 1938 auf – nur was diesen Zeitraum anbelangt, um jedem Missverständnis vorzubeugen. Ein seit einhundert Jahren zwischen den großen Konfessionen herrschender Religionsfrieden, der im Laufe der letzten Jahre immer brüchiger geworden ist, wird vom König 1685 aufgekündigt. Der Siegeszug der protestantischen Idee in Frankreich ist damit jäh gestoppt.

Die Kunde vom Ende des Religionsfriedens in Frankreich erreicht Preußen binnen weniger Tage. Während es in Frankreich zu dieser Zeit nur eine einzige Zeitung gibt, die in Paris erscheinende Gazette, existieren im deutschsprachigen Raum sechzig bis achtzig Zeitungen, allerdings nur in dreistelliger Auflage. Die großen europäischen Städte sind durch regelmäßige Postdienste miteinander verbunden, die brandenburgisch-preußische Staatspost ist einige Jahrzehnte zuvor als Konkurrent zum kaiserlichen Monopolisten Thurn und Taxis entstanden. Elf Tage nach dem Widerruf des Edikts von Nantes in Frankreich, am 29. Oktober 1685, verkündet der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Preußen das Edikt von Potsdam. Im Gegensatz zur protestantisch-lutherischen Bevölkerungsmehrheit ist Friedrich Wilhelm Calvinist. Er steht damit den französischen Glaubensbrüdern näher als sein Volk. In beinahe poetischer Sprache spricht er in seinem Edikt jene an, die gezwungen seien, »ihren Stab zu versetzen«. Er selbst setzt – um im Bild zu bleiben – gerade in diesem Moment auf seine Weise neue Maßstäbe in der Außenpolitik. Preußen hisst seine Flagge an den Küsten Nordafrikas und errichtet einen Stützpunkt im heutigen Mauretanien. Es signalisiert damit seine machtpolitischen Ansprüche im Konzert der europäischen Mächte, auch gegenüber Frankreich.

Das Potsdamer Toleranzedikt


Das Potsdamer Toleranzedikt ist auf den ersten Blick eine Willkommensbotschaft. Sie wird in knapp 5 000 Exemplaren auf Deutsch und auf Französisch unter die Menschen gebracht, die deutsche Fassung soll die Bevölkerung Brandenburgs über die zu erwartende Massenankunft informieren. Die französische Version wird über die preußische Gesandtschaft in Paris verbreitet. Und die Botschaft geht an Brennpunkte des kommenden Geschehens in Haag, Hamburg, Regensburg und Frankfurt am Main, das im Süden des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation – so der offizielle Titel des damaligen Deutschland – zur großen Drehscheibe der hugenottischen Migration wird.

 

Das Edikt von Potsdam warb 1685 für den Zuzug von Protestanten nach Preußen

 

Preußen hatte sich auf den erhofften Massenansturm gut vorbereitet, es war über die zugespitzte Situation zwischen Katholiken und Protestanten in Frankreich informiert und schon seit längerer Zeit an hugenottischer Zuwanderung interessiert. Daher handelt der Kurfürst rasch, auch um den geografischen Nachteil auszugleichen, denn Preußen liegt für die damalige Zeit weit von Frankreich entfernt. Die Neuankömmlinge werden in Räume dirigiert, die der Dreißigjährige Krieg besonders verwüstet hat. Magdeburg, die altehrwürdige Stadt an der Elbe, liegt 37 Jahre nach Kriegsende noch immer in Trümmern. Das Edikt richtet sich daher in erster Linie an städtische Gewerbetreibende, denen Freiheiten bei der Ansiedlung, bei den Abgaben sowie eine Gleichstellung mit der zu 90 Prozent aus Lutheranern bestehenden brandenburgischen Bevölkerung zugesichert werden. Dazu gehört eine freie Religionsausübung. Eine Reihe von brandenburgischen Orten, für die besonders geworben wird, befinden sich in einem bis zu 150 Kilometer umfassenden Radius um Berlin, »weil daselbst sehr wohlfeil zu leben« sei, wie es in dem Edikt etwas voreilig heißt. Dorthin sollen jene Flüchtlinge gehen, die aus ländlichen Gebieten Frankreichs stammen. Insgesamt kommen 20 000 Hugenotten nach Preußen, rund die Hälfte aller Flüchtlinge, die in die Territorien der damaligen deutschen Länder drängen.

Die Flucht von Abraham Tisse


Einer von denen, die in den Novembertagen des Jahres 1685 Kunde von der Einladung in ein fernes Land erhalten, ist Abraham Tisse, der Sohn von Matthieu. Matthieu erlebt diesen entscheidenden Moment nicht mehr, er ist am 27. Dezember 1680 im Alter von 55 Jahren in Marck-en-Calaisis gestorben. Der 28-jährige Abraham entscheidet sich, die Heimat am Pas de Calais zu verlassen. Dort hat man sich in der zweiten, dritten Generation gerade eingelebt. Vielleicht droht ihm die Verhaftung, vielleicht schätzt er die Warnzeichen richtig ein, die es seit einiger Zeit in der Gegend gibt, zum Beispiel die Schließung der Kirche von Guisnes 1685, der zentralen Verkündungsstätte der Hugenotten. Vielleicht geht er aber auch aus mehr oder weniger freien Stücken, im Vertrauen auf die Verheißungen des Alten Testaments. Im 1. Buch Moses 12,1 heißt es: »Geh’ aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen werde.« Was Abraham mitnehmen kann, ob er sich mit Pferd und Wagen auf den Weg macht, ist nicht bekannt. Ein historischer Holzstich aus dieser Zeit zeigt zwei mit Stangen ausgerüstete Männer, einer in städtischer Kleidung mit Dreispitz auf dem Kopf, der andere einfacher gewandet im Stil der »pilgrim fathers« in Nordamerika. Neben ihnen geht eine Kopftuch tragende Frau, gefolgt von einem Pferd mit einer korbartigen beidseitigen Tragetasche, in der ein Kind schläft.

Abraham ist noch jung, unverheiratet. Vermutlich in einer Gruppe unterwegs, begibt er sich mit der aus fünf Mitgliedern bestehenden Familie auf eine wochenlange, mit vielen Risiken behaftete Reise, auf der viele scheitern, unterwegs sterben. Bei einem Unglück auf der Aare ertrinken in der Nähe von Bern 111 Flüchtlinge, bis heute die größte Schiffskatastrophe der Schweiz.

Frankreich lässt seine Protestanten nicht ohne weiteres gehen. Sie müssen ihren Besitz zurücklassen. Bleiben kann, wer zum katholischen Glauben übertritt. Nur die Pfarrer werden gesondert behandelt, achtzig Prozent wählen den Weg ins Exil. Wer in der Nähe der freilich nur spärlich bewachten Grenze ergriffen wird, wird in Haft genommen, es sei denn, das Bestechungsgeld wirkt. Wer kaltblütig genug ist, tarnt sich als Geschäftsreisender. Den Frauen droht die »Einziehung von Leib und Gut«, was immer das heißen mag, den Männern die Galeere. Der eine oder andere kann später freigekauft werden, im Extremfall auf einem Sklavenmarkt in Algier, wenn in der neuen Heimat für ihn Geld gesammelt wird. Die Familien haben Erfahrung mit der Staatsmacht, sie sind für vogelfrei erklärt worden. Das Gemeine im Menschen tritt zutage, der Verrat zahlt sich aus. Es gab bereits die berüchtigte Einquartierung katholischer Soldaten, die sogenannten »dragonnades«, Folter und Todesurteile.

 

Die Hugenotten auf der Flucht, zeitgenössischer Stich von Jan Luyken (1696)

 

Der soziale Status bestimmt den Ablauf der Flucht. Wer nicht überstürzt die Heimat verlassen muss, plant die Reise, bedenkt die entscheidenden Fragen am Tage und während der Nacht: die Stellen, an denen Flüsse überquert, wie Kontrollpunkte umgangen werden können. Entlang der großen Flüsse existieren nur wenige Brücken, am Rhein nur in Basel, Breisach und Kehl; sie zu passieren ist gefährlich, weil sie überwacht werden. Wie heute gibt es auch damals schon Schleuser, bezahlte Führer, die die Gegend kennen. Ihnen droht die Todesstrafe. »Mit Geld überquert man die Rhône überall«, heißt es nichtsdestotrotz in Südfrankreich. Genauso kann man Betrügern in die Hände fallen, geldgierigen Schiffseignern oder Räubern. Da die Niederlande und die englische Küste mit Dover nicht weit entfernt sind, flüchten viele Menschen per Boot während der wärmeren Jahreszeiten. Es kommen auch Schiffe aus Dover an die Gegenküste, um Bedrängte zu retten. Die Bauern, die die Flüchtenden aufhalten sollen, sind mit Feldarbeiten beschäftigt, die Chance durchzukommen ist hoch. Von Calais geht es über Dünkirchen nach Amsterdam, weiter nach Hamburg und dann zu Fuß nach Lübeck. Fortgesetzt wird die Reise, wenn man von Norden in die preußischen Territorien gelangen will, erneut per Schiff nach Stettin. Bis nach Berlin und in die Uckermark ist es von dort nicht mehr weit.

Fluchtberichte


Der Pfarrer Jean Babin wählt drei Jahre nach Beginn dieser Massenflucht in seinem Fluchtbericht Bilder und Inhalte gemäß alttestamentarischer Traditionen: »Das ist kein Meer, wie es die Kinder Israels durchquerten, sondern eines einer ganz anderen Dimension, wie von ihm im Buch der Apokalypse im Kapitel 15 die Rede ist, ein gläsernes Meer vermischt...