Logic of Discovery or Psychology of Research? / Logik oder Psychologie der Forschung? (Englisch/Deutsch) - Great Papers Philosophie

Logic of Discovery or Psychology of Research? / Logik oder Psychologie der Forschung? (Englisch/Deutsch) - Great Papers Philosophie

von: Thomas S. Kuhn, Cornelis Menke

Reclam Verlag, 2021

ISBN: 9783159618722 , 159 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 5,99 EUR

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Logic of Discovery or Psychology of Research? / Logik oder Psychologie der Forschung? (Englisch/Deutsch) - Great Papers Philosophie


 

[7]Logik oder Psychologie der Forschung?45


Thomas S. Kuhn

Princeton University

 

Mein Ziel auf diesen Seiten ist eine Gegenüberstellung der Auffassung der wissenschaftlichen Entwicklung, die in meinem Buch The Structure of Scientific Revolutions umrissen wird, und der besser bekannten Auffassung unseres Chairs Sir Karl Popper.46 Normalerweise hätte ich eine solche Aufgabe nicht übernommen – ich bin nicht so überzeugt wie Sir Karl, was den Nutzen von Konfrontationen betrifft; zudem habe ich sein Werk zu lange bewundert, um jetzt leicht zum Kritiker zu werden. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass zu diesem Anlass ein solcher Versuch gemacht werden muss: Ich hatte, schon bevor mein Buch vor zweieinhalb Jahren erschienen ist, begonnen, [9]besondere und oft befremdliche Eigentümlichkeiten der Beziehung zwischen meiner und seiner Auffassung festzustellen. Diese Beziehung und die unterschiedlichen Reaktionen auf sie, die mir begegnet sind, legen nahe, dass ein geordneter Vergleich der beiden Auffassungen in besonderer Weise erhellend sein könnte. Lassen Sie mich erklären, warum ich denke, dies könnte der Fall sein.

Eigentlich immer, wenn wir uns ausdrücklich denselben Problemen zuwenden, sind Sir Karls Auffassung der Wissenschaft und meine eigene nahezu identisch miteinander.47 Wir interessieren uns beide für den dynamischen Prozess, durch den wissenschaftliches Wissen erworben wird, und nicht für die logische Struktur der Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung. Vor dem Hintergrund dieses Interesses verstehen wir beide die Tatsachen und auch den Geist des wirklichen wissenschaftlichen Lebens als die legitimen Daten, und wir beide wenden uns oft an die Geschichte, um sie zu finden. Aus diesem gemeinsamen Datenbestand ziehen wir vielfach dieselben Schlüsse. Wir beide lehnen die Auffassung ab, dass die Wissenschaft durch einfache Akkumulation Fortschritte macht; [2] wir beide heben [11]dagegen den revolutionären Prozess hervor, durch den eine ältere Theorie verworfen und durch eine inkompatible neue ersetzt wird48; und wir beide unterstreichen mit Nachdruck die Rolle, die es in diesem Prozess spielt, wenn die alte Theorie den durch Logik, Experiment oder Beobachtung gestellten Herausforderungen gelegentlich nicht gerecht wird. Schließlich eint Sir Karl und mich, dass wir eine Anzahl von Thesen ablehnen, die für den klassischen Positivismus sehr charakteristisch sind: Wir beide heben zum Beispiel die enge und unvermeidliche Verschränkung von wissenschaftlicher Beobachtung und wissenschaftlicher Theorie hervor; entsprechend skeptisch sind wir gegenüber Versuchen, eine neutrale Beobachtungssprache zu entwerfen; und wir beide verteidigen die Behauptung, dass Wissenschaftler sich mit Recht das Ziel setzen können, Theorien zu entwickeln, die beobachtete Phänomene erklären, und dies durch Annahme realer Gegenstände, was immer der letztere Ausdruck auch meinen mag.

Diese Liste erschöpft zwar keineswegs jene Punkte, in denen Sir Karl und ich übereinstimmen,49 sie ist dennoch [13]ausführlich genug, um uns der gleichen Minderheit unter den gegenwärtigen Wissenschaftsphilosophen zuzuordnen. Dies dürfte der Grund sein, weshalb die Anhänger Sir Karls mit einiger Regelmäßigkeit das mir wohlgesinnteste philosophische Publikum bilden, eines, für das ich anhaltend dankbar bin. Doch ist meine Dankbarkeit nicht ungetrübt. Dieselbe Übereinstimmung, die das Wohlwollen dieser Gruppe hervorruft, lenkt ihr Interesse zu oft in eine falsche Richtung. Offensichtlich können Sir Karls Anhänger oft große Teile meines Buchs als Kapitel einer späten (und, für einige: einer drastischen) Überarbeitung seines Klassikers, der Logik der Forschung, lesen. Einer von ihnen fragt, ob die Auffassung von der Wissenschaft, die in meinen Scientific Revolutions dargestellt wird, nicht schon lange allgemein bekannt sei. Ein Zweiter gesteht mir noch großzügiger Originalität in dem Nachweis zu, dass Entdeckungen-von-Tatsachen einen Lebenszyklus haben, ganz ähnlich denen, die Innovationen-von-Theorien zeigen. Wieder andere bringen eine allgemeine Zufriedenheit mit dem Buch zum Ausdruck, diskutieren jedoch nur die zwei vergleichsweise nachrangigen Fragen, bei denen meine fehlende Übereinstimmung mit Sir Karl wohl am deutlichsten hervortritt, nämlich meine Betonung der Bedeutung einer tiefen Verpflichtung gegenüber der Tradition und meine [15]Unzufriedenheit mit den Implikationen des Ausdrucks »Falsifikation«. Kurz gesagt: Sie alle lesen mein Buch durch eine sehr besondere Brille, und man kann es auf eine andere Art lesen. Was man durch diese Brille sieht, ist nicht falsch – meine Übereinstimmung mit Sir Karl gibt es wirklich und sie ist substantiell. Doch Leser, die nicht aus dem Popper’schen Kreis stammen, sehen fast [3] ohne Ausnahme nicht einmal, dass eine Übereinstimmung existiert, und es sind diese Leser, die am häufigsten erkennen (nicht zwingend mit Sympathie), was mir als die zentralen Fragen erscheinen. Ich schließe daraus, dass ein »Gestaltwechsel« die Leser meines Buchs in zwei oder noch mehr Gruppen teilt. Das, was die eine von diesen als offensichtliche Parallelität ansieht, ist für die anderen fast unsichtbar. Der Wunsch zu verstehen, wie dies möglich ist, motiviert den vorliegenden Vergleich meiner Auffassung mit derjenigen Sir Karls.

Der Vergleich darf aber keine bloße Punkt-für-Punkt-Gegenüberstellung sein. Was Beachtung verdient, ist nicht so sehr das Randgebiet, in dem unsere gelegentlichen, zweitrangigen Differenzen zu finden sind, sondern die Zentralregion, im der wir übereinzustimmen scheinen. Sir Karl und ich berufen uns auf dieselben Daten; wir sehen, in einem ungewöhnlichen Ausmaß, dieselben Linien auf demselben Papier; auf Fragen zu diesen Linien und diesen Daten geben wir oft praktisch dieselben Antworten, oder jedenfalls Antworten, die jeweils einzeln betrachtet (was durch die Form von Fragen-und-Antworten befördert wird) unvermeidlich identisch erscheinen. Dennoch überzeugen mich Erfahrungen wie die oben angeführten, dass unsere Intentionen oft sehr unterschiedlich sind, auch wenn wir dasselbe sagen. Obwohl die Linien dieselben [17]sind: Die Gestalten, die aus ihnen hervorgehen, sind es nicht. Das ist der Grund dafür, weshalb ich das, was uns trennt, einen Gestaltwechsel und nicht eine sachliche Differenz nenne, und aus demselben Grund bin ich zugleich ratlos und fasziniert von der Frage, wie man, was uns trennt, am besten auslotet. Wie kann ich Sir Karl davon überzeugen, der alles, was ich über Wissenschaftsentwicklung weiß, weiß und es irgendwo auch gesagt hat, dass man, was er eine Ente nennt, auch als Kaninchen sehen kann? Wie kann ich ihm zeigen, wie es wäre, meine Brille zu tragen, wenn er schon gelernt hat, alles, worauf ich zeigen könnte, durch seine eigene zu sehen?

In dieser Situation braucht es einen Strategiewechsel, und die folgende Strategie bietet sich an: Beim erneuten Lesen mehrerer der Hauptwerke und -aufsätze Sir Karls begegnen mir erneut eine Reihe wiederkehrender Formulierungen, die – obwohl ich sie verstehe und nicht grundsätzlich ablehne – Ausdrucksweisen sind, die ich niemals an denselben Stellen hätte verwenden können. In den meisten Fällen sind sie zweifellos als Metaphern gemeint, die rhetorisch auf Situationen angewendet werden, für die Sir Karl an anderer Stelle Beschreibungen gegeben hat, die nicht zu beanstanden sind. Für die vorliegenden Zwecke könnten sich diese Metaphern (die mir offenkundig unangemessen zu sein scheinen) jedoch als nützlicher erweisen als direkte Beschreibungen; sie könnten nämlich Kontext-Unterschiede anzeigen, die ein sorgfältiger wörtlicher Ausdruck verdeckt. Sollte dies der Fall sein, dienen diese Ausdrucksweisen vielleicht nicht als die Linien-auf-Papier, sondern als das Kaninchen-Ohr, das Kopftuch oder das Halsband, auf das man hinweist, um einem Freund beizubringen, seine[19] Sicht einer Kippfigur zu wechseln. Dies ist jedenfalls, was ich mir von ihnen erhoffe. Vier solcher Unterschiede in der Ausdrucksweise habe ich im Sinn und möchte sie der Reihe nach durchgehen. [4]

I


Zu den grundlegendsten Punkten, in Bezug auf die Sir Karl und ich übereinstimmen, gehört unser Insistieren darauf, dass eine Analyse der Entwicklung wissenschaftlichen Wissens der Art Rechnung tragen muss, in der Wissenschaft tatsächlich praktiziert wurde. Vor diesem Hintergrund verblüffen mich einige seiner wiederholten Verallgemeinerungen. Eine davon bildet den Einleitungssatz des ersten Kapitels der Logik der Forschung. »Die Tätigkeit des wissenschaftlichen Forschers«, schreibt Sir Karl, »besteht darin, Sätze oder Systeme von Sätzen aufzustellen und systematisch zu überprüfen; in den empirischen Wissenschaften sind es insbesondere Hypothesen, Theoriensysteme, die aufgestellt und an der Erfahrung durch Beobachtung und Experiment überprüft werden.«50 Diese Feststellung ist praktisch ein Klischee, doch ihre Anwendung führt zu drei Problemen: Sie ist zweideutig, insofern sie nicht spezifiziert, welche von zwei Arten von »Aussagen« oder »Theorien« getestet wird. Zwar stimmt es, dass sich diese Zweideutigkeit mit Rückgriff auf andere Passagen in Sir Karls Schriften beheben lässt, doch ist die Verallgemeinerung, zu der dies führt,...