Der Große Nordische Krieg 1700-1721 - Reclam - Kriege der Moderne

Der Große Nordische Krieg 1700-1721 - Reclam - Kriege der Moderne

von: Stephan Lehnstaedt

Reclam Verlag, 2021

ISBN: 9783159618760 , 160 Seiten

Format: ePUB

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Der Große Nordische Krieg 1700-1721 - Reclam - Kriege der Moderne


 

[13]2 Nordosteuropa im 17. Jahrhundert: das schwedische Imperium und der Niedergang Polens


1614 war erstmals vom schwedischen Dominium maris baltici – der ›Ostseeherrschaft‹ die Rede. Der Hafen von Stockholm auf einem Gemälde von Bonaventura Peeters, 1636

Spätestens seit den Zeiten der Hanse war die Ostsee ein Meer der Möglichkeiten: Sie ermöglichte kulturellen Austausch, schnellen Transport und umsatzstarken Handel. Entsprechend attraktiv war es, die Kontrolle über sie auszuüben. Anspruch darauf erhoben zunächst die dänischen Herrscher, die den Sund und damit die Zufahrt von der Nordsee zur Ostsee kontrollierten. Das brachte ihnen üppige Zolleinnahmen ein, die die Expansion nach Norwegen finanzierten. Dieser Reichtum rief natürlich Neider auf den Plan, und insbesondere der Nachbar Schweden erwies sich als überaus geschickt darin, den Dänen den Rang abzulaufen: 1614 war erstmals die Rede vom schwedischen Dominium maris baltici – der Ostseeherrschaft.

Dieser Aufstieg war auch deshalb möglich, weil südlich des Meeres die polnischen Adligen viel mehr an ihren eigenen Landbesitz dachten als an den Seehandel. Ihr Expansionsdrang führte sie nach Osten, gegen das Moskauer Zarenreich: Unter ihrem aus Schweden stammenden König Sigismund III. Wasa ritten polnische Husaren 1610 in den Kreml [14]und konnten wenige Jahre später einen überaus vorteilhaften Frieden erzwingen.

Moskau wiederum wurde von allen Seiten bedrängt: Im Osten und Süden musste es sich der tatarischen Reitervölker erwehren, im Westen der Polen, und im Norden besetzte Schweden, zu dessen Territorium in jener Zeit auch das heutige Finnland gehörte, immer größere Teile des Baltikums und verweigerte den Zaren einen Zugang zum Meer. Von Stockholm aus wurden das heutige Estland und Lettland regiert, Karelien, Ingermanland und sämtliche Ostseeinseln, dazu Vorpommern sowie das an die Nordsee reichende Herzogtum Bremen-Verden. Die Zahl der Untertanen Schwedens blieb bescheiden, sie verteilten sich aber auf eine riesige Fläche. Gemeinsam mit Finnland hatte das Mutterland 1,4 Millionen Einwohner, nochmals 1,1 Millionen lebten auf der anderen Seite der Ostsee. Und während Stockholm 57 000 Bewohner zählte, waren lediglich noch Riga, Reval, Stralsund und Stettin von nennenswerter Größe, wenn auch nur jeweils mit 10 00012 000 Menschen. Das war zwar nichts im Vergleich zu Metropolen wie London und Paris mit ihren Bevölkerungen von jeweils über einer halben Million, aber Schweden war nach seinen Eroberungen im Dreißigjährigen Krieg (16181648) größer als etwa Brandenburg-Preußen mit 2 Millionen, Dänemark-Norwegen mit 1,5 Millionen oder Sachsen mit 1,2 Millionen Einwohnern.

Riga war weit hinter Stockholm und neben Reval, Stralsund und Stettin eine der größeren schwedischen Städte im Ostseeraum. Ansicht der Stadt Riga, Kupferstich, um 1700

Wie aggressiv und zudem erfolgreich Schweden militärisch agierte, bekam vor allem Polen-Litauen immer wieder zu spüren. Seine [15]Truppen verwüsteten das Land so stark, dass im Polnischen bis heute »Schwedenflut« ein geflügeltes Wort für eine Heimsuchung biblischen Ausmaßes ist. Weil in jenen Jahren in der Mitte des 17. Jahrhunderts außerdem die in der heutigen Ukraine beheimateten Kosaken mit Moskauer Hilfe gegen die polnische Dominanz rebellierten, erlebte Polen nach seinem Triumph 1610 ein Zeitalter voller Not und Elend.

Die Adelsrepublik verlor Ende des 17. Jahrhunderts ihren Status als Großmacht und entwickelte sich immer mehr zu einem kaum noch regierbaren, von inneren Auseinandersetzungen gebeutelten und von äußeren Feinden bedrängten Land. Dennoch deutete zunächst nichts darauf hin, dass einmal Russland und Preußen die dominierenden Akteure in Ostmitteleuropa sein würden. Erst die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hat diese Vorherrschaft als erwartbar und gewissermaßen natürlich dargestellt. Aber diese Annahme geht von falschen Voraussetzungen aus: Keinesfalls handelte es sich dabei um einen zwangsläufigen Prozess, ganz im Gegenteil ist er höchst erklärungsbedürftig.

Der Niedergang von Polen-Litauen war nicht unabwendbar. Der Sejm, das Parlament der Adelsrepublik, hatte 1697 mit Friedrich August von Sachsen den Herrscher des wohlhabendsten deutschen Kurfürstentums als August II. zu seinem König gewählt. Der Dynastie der Wettiner war damit als erstem Haus innerhalb des Heiligen Römischen Reiches der Aufstieg zur Königskrone gelungen. Die Krönung schien ein konsequenter Schritt auf dem Weg zu einer glänzenden Zukunft, [16]denn selbst die vergleichsweise bescheidenen Machtmittel der Adelsrepublik stellten August weit höher als seine Berliner Rivalen. Dass Brandenburg-Preußen zum alles dominierenden Faktor der deutschen Geschichte werden würde, konnten sich die Zeitgenossen um 1700 nicht vorstellen.

Und tatsächlich war die Adelsrepublik Polen-Litauen, bei aller Schwäche, nicht rückständiger als ihre Nachbarn: Feudalismus und Leibeigenschaft gab es schließlich auch in Russland oder Preußen. Ähnliches galt für das polnische Militär, das vielleicht nicht den mitteleuropäischen Erwartungen an eine starke Infanterie entsprach, aber mit seinem Fokus auf die schwere Reiterei perfekt auf Auseinandersetzungen in den Weiten Osteuropas vorbereitet war. Zuletzt hatten sich diese Einheiten beim Sieg gegen die Türken vor Wien 1683 bewährt.

Vor der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert deutete außerdem nichts auf einen schwedischen Einflussverlust hin. Das Land war seit den drei Friedensverträgen 1660/61 mit Polen, Dänemark und Russland in eine Phase der Konsolidierung eingetreten und hatte lediglich 1675 in Fehrbellin eine militärisch unbedeutende, aber für Preußens Gloria hochsymbolische Schlacht verloren. Karl XI. setzte danach auf einen Modernisierungskurs und sicherte sich selbst absolutistische Vorrechte. Das ging einher mit einer massiven Steigerung der Einkünfte der Krone: Der Königshof zog insbesondere in den baltischen Provinzen Lehen ein, um so unmittelbaren Zugriff auf deren Einkünfte zu erhalten. Der Grundbesitz des Monarchen stieg in Livland von 1,25 Prozent auf über 80 Prozent. Das stieß auf massiven Protest der lokalen Adligen. Doch statt deren Anführer Johann von Patkul Zugeständnisse zu machen, klagte man ihn in Stockholm der Majestätsbeleidigung an.

Im schwedischen Kernland hingegen traf die neue Politik auf Zustimmung: Der Militärstaat hatte die Gesellschaft verändert. Es herrschte nicht mehr nur eine kleine Clique alteingesessener Adliger, die von den Einkünften ihrer Ländereien lebten, sondern es gab auch viele Männer, die für ihre Verdienste geadelt worden waren. Diese Offiziere und Beamten waren die großen Nutznießer der Neuordnung. Zugleich verminderte sich die Staatsschuld von über 40 auf 10 Millionen Taler, außerdem konnten Heer und Flotte ausgebaut werden.

Rzeczpospolita – die polnisch-litauische Adelsrepublik

Einer der ungewöhnlichsten Staaten der Frühen Neuzeit war die seit einem Unionsvertrag von 1569 bestehende polnisch-litauische Rzeczpospolita. Dieser Zusammenschluss war ganz wörtlich die »gemeinsame Sache« eines Adels, der beinahe zehn Prozent der Bevölkerung ausmachte. Er trat im Sejm, dem Parlament, zusammen, beschloss dort Gesetze und wählte den König. Latein als gemeinsame Amtssprache ermöglichte die Verständigung, aber die Vorrechte der Adligen erschwerten eine effiziente Verwaltung. Dazu gehörte insbesondere das liberum veto, das jedem Anwesenden ein Blockaderecht im Sejm ermöglichte, weshalb die erforderliche Einstimmigkeit oftmals mit vielen Zugeständnissen erkauft werden musste.

Dennoch erwies sich Polen-Litauen als erstaunlich handlungsfähig. Zeitweise erstreckte sich das beherrschte Gebiet von der Ostsee bis ans Schwarze Meer – es war der größte Flächenstaat Europas. Manche der hochadligen Magnaten herrschten über größere Territorien als die deutschen Fürsten. Weil ihre Besitzungen selten zusammenhingen, sondern sich über beide Reichsteile erstreckten – die jeweils ihre eigenen Verwaltungsstrukturen hatten, so dass sämtliche Ämter doppelt vorhanden waren – galt ihr Interesse aber einem Fortbestand der Republik. Außerdem boten Königswahlen, wie etwa die von Friedrich August von Sachsen, die Möglichkeit, durch Bestechungen an Posten zu gelangen.

Der Sohn Karls XI., der als Karl XII. der bedeutendste Feldherr des Großen Nordischen Krieges werden sollte, übernahm bei seiner [17]Thronbesteigung 1697 ein finanziell gut aufgestelltes Reich mit einem wohlorganisierten...