Leben mit der Krise - Theologisch-praktische Quartalschrift 3/2021

Leben mit der Krise - Theologisch-praktische Quartalschrift 3/2021

von: Die Professoren Professorinnen der Fakultät für Theologie der Kath. Privat-Universität Linz

Verlag Friedrich Pustet, 2021

ISBN: 9783791762005 , 112 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Leben mit der Krise - Theologisch-praktische Quartalschrift 3/2021


 

Gerhard Kruip

Die Corona-Krise – Wird die Chance zum Lernen genutzt?


 Bereits Mitte 2020 wurde einerseits deutlich, dass die Corona-Krise bestehende sozioökonomische Ungleichheiten verstärkt. Andererseits wurde das verringerte Mobilitätsgeschehen mitunter als Chance für eine Reduzierung der Erderwärmung gesehen. Rasch wurden die Dynamiken der Pandemie und ihrer Bekämpfung als grundlegende – positive oder negative – Tendenzen analysiert, nicht selten verknüpft mit teilweise vollmundigen Hinweisen: Man könne dies und jenes aus der Pandemie lernen, in der Krise sehe man diese oder jene Entwicklung „wie unter einem Brennglas“ etc. Der Beitrag versucht – soweit es derzeit schon möglich ist – eine Analyse einzelner Entwicklungen in der Corona-Pandemie und mündet in einen Appell an die Vernunft im Sinne diskursiver Verständigung und intellektueller Kooperation – daraus resultiert für den Autor die Hoffnung für die Bewältigung der Krise. (Redaktion)

1 Krise als Lernchance


Von der ursprünglichen Wortbedeutung her ist „Krise“ nicht einfach nur eine Zeit besonderer Probleme und Nöte, sondern ein Höhepunkt oder Wendepunkt. Lebenskrisen einzelner Personen als Chance zu begreifen ist ein allgemeiner Topos entsprechender therapeutischer und sozialpädagogischer Arbeit.1 Doch gilt dies auch für Gesellschaften als ganze, sogar für die Menschheit? Der deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble meinte im August 2020 in einem Interview mit der Neuen Westfälischen Zeitung: „Die Corona-Krise ist eine große Chance. Der Widerstand gegen Veränderung wird in der Krise geringer.“2 Ähnlich äußern sich gegenwärtig viele. Sie hoffen, dass die Menschheit nach der Überwindung der Pandemie nicht einfach wieder zur Normalität zurückkehrt, sondern aus ihr Lehren zieht und die Weichen in Richtung einer nachhaltigeren Entwicklung und einer gerechteren Weltgesellschaft stellt. Viele erinnern sich freilich an eine ganz ähnliche Rhetorik nach der Finanzmarkt-, Euro- und Staatsschuldenkrise der Jahre 2008/2009.3 Zwar wurden hinsichtlich der Regulierung der Finanzmärkte und des Bankenwesens ein paar Verbesserungen vorgenommen, jedoch erscheinen diese im Rückblick als bei weitem nicht ausreichend. Deshalb ist Papst Franziskus zuzustimmen, wenn er in Laudato si’ feststellt: „Die Finanzen ersticken die Realwirtschaft. Man hat die Lektionen der weltweiten Finanzkrise nicht gelernt […]“ (LS 109). Muss man also skeptisch sein hinsichtlich der Chancen, aus der Corona-Krise zu lernen?

Ideal wäre es, wenn die Menschheit zum Lernen gar keine Krisen bräuchte, auch weil es bei heftigeren Krisen zu spät sein könnte. Kurz nach dem Beginn der Umweltdebatten in den 1970er-Jahren hat ein Bericht an den Club of Rome, der ja durch seine Studie zu den „Grenzen des Wachstums“ maßgeblich zu diesem Diskurs beigetragen hatte, unter dem Titel „Das menschliche Dilemma“ auf die Diskrepanz hingewiesen „zwischen der zunehmenden Komplexität aller Verhältnisse und unserer Fähigkeit, ihr wirksam zu begegnen“4. Der Bericht bemüht sich, Formen vorausschauenden und innovativen Lernens zu entwickeln. Denn angesichts der größten Herausforderung, der sich die Menschheit gegenwärtig und in Zukunft gegenübersieht, der allmählichen Erderwärmung, ist es sicherlich für Gegenmaßnahmen zu spät, wenn die Welt erst durch eine Krise erschüttert werden muss, die eindeutig auf den beschönigend „Klimawandel“ genannten Prozess zurückgeht. Die ersten Vorwarnungen in Form von Extremwetterereignissen scheinen noch nicht massiv genug zu sein, um die Menschheit wachzurütteln. Auf die große, uns eindeutige Lehren erteilende Katastrophe sollten wir jedoch nicht warten. „[…] vielleicht wird dann niemand mehr da sein, der Gebrauch davon machen kann, oder unser Lebensraum ist möglicherweise so zerstört, daß der Schaden irreparabel ist.“5

Auch wenn es graduelle Unterschiede gibt, bedroht die Covid-19-Pandemie alle Länder, hat gravierende ökonomische Folgen und bis Mitte März 2021 weltweit bereits mehr als 2,6 Millionen Menschen6 das Leben gekostet, so als wären ein Jahr lang täglich 24 Flugzeuge mit jeweils 300 Menschen an Bord abgestürzt. Flugzeugabstürze sind spektakulärer als die stille Not meist älterer Menschen auf Intensivstationen – oder in Krankenhausfluren, wenn keine Intensivbetten mehr zur Verfügung stehen. Aber der Vergleich macht doch die Dramatik der Covid-19-Pandemie deutlich. Und die hohe Sensibilität für die mit der Krise verbundenen Nöte hängt sicher auch damit zusammen, dass sie gerade die reicheren Länder, allen voran die USA, so hart getroffen hat. Wenn man sich dann noch klarmacht, wie sehr die Ausbreitung des Corona-Virus mit Phänomenen wie Globalisierung und Beschleunigung, vor allem aber mit der tatsächlich massiv gewordenen Herrschaft der Menschheit (dem „Anthropozän“7) über alle anderen Lebewesen auf ihrem Planeten zusammenhängt, muss man sich fragen, ob diese Krise nicht doch ein Anlass zum Lernen sein sollte, nämlich dazu, die bisherige Lebensweise zu überdenken, anstatt sich einfach nach der Normalität von vorher zurückzusehnen.

2 Corona-Krise als „Brennglas“


Immer wieder war und ist von der Corona-Krise als „Brennglas“ die Rede.8 Gemeint ist damit, dass durch die „Lupe“ der Krisenwahrnehmung Probleme deutlicher sichtbar werden, die schon vor der Krise bestanden, aber kaum wahrgenommen und weniger problematisiert wurden. Auch wenn einzelne Unternehmen (z. B. Lieferdienste oder Bauunternehmen) von der Krise profitierten, so verschärfte sie doch viele der bereits bestehenden sozialen Ungleichheiten. Menschen mit Vorerkrankungen, die häufig auch mit einer schlechteren Lebenssituation und Armut verbunden sind, haben ein höheres Risiko, an Covid-19 zu sterben. Menschen in Arbeitssituationen, die durch besonderen Stress, große Enge und schlechtes Raumklima gekennzeichnet sind (wie z. B. in der Fleischindustrie, aber nicht nur dort), haben ein höheres Ansteckungsrisiko. Prekär Beschäftigte in den Bereichen, die von den Anti-Corona-Maßnahmen besonders betroffen waren und sind (z. B. im Tourismus und in der Gastronomie), sind stärker durch Arbeitslosigkeit bedroht und werden durch die Kurzarbeitsregelungen oft nicht aufgefangen. Ohnehin meist nicht gut bezahlte Solo-Selbständige etwa im Kulturbereich sehen sich in ihrer beruflichen Existenz bedroht. Familien in kleinen Stadtwohnungen leiden stärker unter einem Lock-down und der gleichzeitig nötigen Bewältigung von Home-schooling und Home-office, was oft auch Frauen benachteiligt, weil es einen Rückfall in traditionelle Rollenteilungen mit sich brachte. Kinder in Familien mit niedrigerem Einkommen und weniger gebildeten Eltern kommen mit dem Fernunterricht auch sehr viel schlechter zurecht als andere. So gibt es insgesamt tatsächlich die Tendenz, dass in dieser Krise die Ärmeren noch schlechter gestellt und den weniger Gebildeten Bildungschancen verbaut werden. Manche sprechen mit Blick auf Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Familien, darunter besonders viele mit Migrationshintergrund, bereits von einer ganzen, durch Bildungs- und Integrationsdefizite geschädigten Generation.

Welche sozialen Effekte die Pandemie letztlich hatte, wird man erst im Rückblick genauer erfassen können. Aber schon jetzt bestätigt der Datenreport 2021 des Statistischen Bundesamtes, des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung und des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung die oben genannten Beobachtungen. Hart war der Einschnitt im zweiten Quartal 2020: Das Bruttoinlandsprodukt ging um 9,8 %, die privaten Konsumausgaben gingen um 13 % zurück.9 Besonders betroffen war der Flugverkehr: Er ging von Februar bis Juli 2020 um 92 % zurück (469). Die Konsequenzen dieser und anderer Einbrüche wirkten sich aber je nach Bildungsgrad, Erwerbsstatus und Einkommen der Beschäftigten sehr unterschiedlich aus: Während von ungelernten Arbeiter*innen 17 % und von einfachen Angestellten 14 % in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, waren es unter den Beamt*innen nur knapp über 2 % (499). Zwar haben auch reichere Personen, vor allem gutverdienende Selbständige, in einigen Bereichen Einkommensverluste hinnehmen müssen, konnten diese aber meist leichter verkraften, und manch ein Geringverdiener wird in Boombranchen eine Arbeit gefunden oder seine Arbeitszeit ausgeweitet haben. Aber generell waren Personen aus unteren Einkommensschichten signifikant häufiger sowohl von Arbeitslosigkeit als auch von empfindlichen Einkommensverlusten betroffen, während Personen aus höheren Einkommensschichten stärker von betrieblichen und/oder staatlichen Maßnahmen zur Absicherung des Arbeitsplatzes und des Einkommens profitierten (494). Am häufigsten litten Alleinerziehende unter finanziellen Problemen. Derzeit (März 2021) ist noch nicht genau abzuschätzen, ob die erlittenen Verluste wieder ausgeglichen werden können und welchen Effekt die Pandemie langfristig auf die Einkommens- und Vermögensverteilung haben wird. Vermutlich dürfte die Armutsquote10, die 2018 im Vergleich zu 2017 zurückgegangen war (von 17,3 % auf 15,8 %) (233) durch die Krise wieder angestiegen sein.

In Ländern mit schlechteren Gesundheitssystemen, fehlender sozialstaatlicher Absicherung, Regierungsversagen angesichts der Krise (wie etwa in Brasilien) und einem hohen Anteil an Menschen, die im informellen Sektor arbeiten, ist...