Unruhe im Kopf - Über Entstehung und Heilung von Aufmerksamdefizitstörungen

Unruhe im Kopf - Über Entstehung und Heilung von Aufmerksamdefizitstörungen

von: Gabor Maté

Unimedica , 2021

ISBN: 9783962572600 , 440 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 25,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Unruhe im Kopf - Über Entstehung und Heilung von Aufmerksamdefizitstörungen


 

KAPITEL 1


So viel Suppe und Mülleimer


Die Medizin sagt uns genauso viel über die bedeutungsvolle Leistung des Heilens, Leidens und Sterbens, wie eine chemische Analyse uns etwas über den ästhetischen Wert von Töpferware sagt.

—IVAN ILLICH

Die Nemesis der Medizin

Bis vor vier Jahren verstand ich die Aufmerksamkeitsdefizitstörung ungefähr so gut wie fast jeder Arzt in Nordamerika, das heißt, so gut wie überhaupt nicht. Ich habe durch einen dieser unerwarteten Zufälle, die im Grunde genommen keine Zufälle sind, mehr darüber erfahren. Eine Sozialarbeiterin, die ich kennengelernt hatte, war mit der Diagnose ADHS konfrontiert worden und hatte mir angeboten, ihre Geschichte zu erzählen. Sie vermutete, dass ich mich dafür interessieren würde – oder vermutlich hatte es ihr eher ihr Bauchgefühl gesagt. Also beschloss ich als Kolumnist für medizinische Themen in The Globe and Mail, einen Artikel über diese merkwürdige Störung zu schreiben. Aus der geplanten Kolumne wurde eine Reihe von vier.

Nur meinen Zeh hineinzutauchen hieß für mich zu wissen, dass ich mein ganzes Leben lang bis zum Hals darin gesteckt hatte. Diese Erkenntnis könnte man als die Phase der ADHS-Erleuchtung bezeichnen, die Verkündigung, die durch Euphorie, Verständnis, Begeisterung und Hoffnung gekennzeichnet ist. Mir schien es, als hätte ich den Weg zu jenen dunklen Winkeln meines Geistes gefunden, aus denen ohne jede Warnung Chaos, wilde Gedanken, Pläne, Emotionen und Absichten in alle Richtungen hervorschießen. Ich hatte das Gefühl, entdeckt zu haben, was mich immer davon abgehalten hatte, psychische Integrität zu erlangen: Ganzheit, die Abstimmung und die Zusammenführung der unharmonischen Fragmente meiner Gedanken.

Die nie zur Ruhe kommenden Gedanken des ADHS-Erwachsenen irren herum wie ein verwirrter Vogel, der sich hier oder da für eine Weile niederlassen kann, aber nie lange genug bleibt, um ein Nest zu bauen. Der britische Psychiater R. D. Laing hat an irgendeiner Stelle einmal gesagt, dass es drei Dinge gibt, vor denen Menschen Angst haben: vor dem Tod, vor anderen Menschen und vor ihrer eigenen Psyche. Aus Angst vor meiner eigenen Psyche hatte mir immer davor gegraut, einen Moment lang allein mit ihr zu sein. Für den Notfall musste ich immer ein Buch in der Tasche haben, falls ich irgendwo warten musste, auch wenn es nur eine Minute war, sei es in der Schlange in der Bank oder an der Kasse im Supermarkt. Ich warf meinem Geist immer wieder kleine Fetzen zu, von denen er sich ernähren sollte, wie einem wilden und grausamen Tier, das mich in dem Augenblick verschlingen würde, in dem es nichts im Maul hatte.1 Mein ganzes Leben lang hatte ich nicht gewusst, wie ich anders hätte sein können.

Der Schock der Selbsterkenntnis, den viele Erwachsene erleiden, wenn sie etwas über ADHS erfahren, ist sowohl belebend als auch schmerzhaft. Es gibt – zum allerersten Mal – einen roten Faden für das Verstehen von Erniedrigungen und Fehlschlägen, von unerfüllten Plänen und nicht gehaltenen Versprechen, von Ausbrüchen manischer Begeisterung, die sich in ihrem eigenen wilden Tanz selbst verzehren und emotionale Trümmer zurücklassen, von scheinbar grenzenloser Fehlorganisation von Aktivitäten, Gehirn, Auto, Schreibtisch und Zimmer.

ADHS schien viele meiner Verhaltensmuster, Gedankenprozesse, kindischen emotionalen Reaktionen sowie meine Arbeitssucht und andere Suchtneigungen zu erklären. Hinzu kamen die plötzlichen Ausbrüche schlechter Laune und totaler Irrationalität, die Konflikte in meiner Ehe und mein Verhalten im Umgang mit meinen Kindern, das an Dr. Jekyll und Mr. Hyde erinnerte. Und auch mein Humor, der sich zu den unmöglichsten Gelegenheiten zeigt und die Menschen zum Lachen bringt oder aber fröstelnd zurücklassen kann. Mein Witz springt zu mir zurück, wie man im Ungarischen sagt, „wie Erbsen, die man an eine Wand wirft“. Sie erklärte zudem meine Neigung, gegen Türen zu rennen, meinen Kopf an Regalen zu stoßen, Sachen fallen zu lassen und Menschen zu streifen, bevor ich überhaupt bemerke, dass sie da sind. Auch meine Unfähigkeit, Anweisungen zu befolgen oder mich auch nur an sie zu erinnern, oder meine lähmende Wut, wenn ich eine Gebrauchsanweisung in der Hand halte, die mir sagt, wie ich die einfachsten Geräte bedienen soll. Vor allem aber wurde mir klar, warum ich mein Leben lang das Gefühl gehabt hatte, mein Potenzial, mich selbst auszudrücken und zu definieren, irgendwie nie voll ausgeschöpft habe – die Überzeugung des ADHS-Erwachsenen, dass er Talente, Kenntnisse oder undefinierbare positive Eigenschaften besitzt, zu denen er Zugang haben könnte, wenn die Drähte nicht falsch verbunden wären. „Ich kann das, auch wenn die Hälfte meines Gehirns hinter meinem Rücken gefesselt ist“, pflegte ich zu scherzen. Das war kein Scherz. Genauso habe ich viele Dinge erledigt.

Mein Weg zur Diagnose ähnelte dem vieler Erwachsener mit ADHS. Ich stieß fast versehentlich auf diese Störung, stellte Recherchen dazu an und suchte mir professionelle Unterstützung, die mir bestätigte, dass meine Vermutung nicht aus der Luft gegriffen war. Mit dem Krankheitsbild der Aufmerksamkeitsdefizitstörung sind so wenige Ärzte oder Psychologen vertraut, dass Betroffene gezwungen sind, selbst zu Experten zu werden, bis sie jemanden gefunden haben, der eine kompetente Einschätzung vornehmen kann. Ich hatte Glück. Als Arzt konnte ich mir einen Weg durch das medizinische Labyrinth bahnen und nach den besten Hilfsquellen suchen. Innerhalb weniger Wochen, nachdem ich meine Kolumnen über ADHS geschrieben hatte, wurde ich von einer ausgezeichneten Kinderpsychiaterin untersucht, die auch Erwachsene mit dieser Störung behandelt. Sie bestätigte meine eigene Diagnose und begann die Behandlung zunächst mit der Verschreibung von Ritalin. Außerdem sprach sie mit mir darüber, wie einige der Entscheidungen, die ich in meinem Leben traf, meine ADHS-Tendenzen verstärkten.

Wie bei vielen Erwachsenen mit ADHS glich mein Leben einer Jongliernummer im Varieté: Ein Mann lässt gleichzeitig mehrere Teller auf Stäben rotieren und versucht, sie im Gleichgewicht zu halten. Er fügt immer mehr Stäbe und Teller hinzu und rennt dann hektisch von einem zum anderen, da jeder Teller immer langsamer wird und herunterzufallen droht. Er kann dies nur so lange fortführen, bis die Stäbe anfangen zu wackeln und die Teller am Boden zerschellen oder bis er selbst zusammenbricht. Eines von beidem muss passieren, aber die ADHS-Persönlichkeit hat Schwierigkeiten, sich von etwas zu lösen. Anders als der Jongleur kann ein Mensch mit ADHS die Vorführung nicht beenden.

Mit genau dieser Ungeduld sowie dem fehlenden Urteilsvermögen, die beide für ADHS typisch sind, hatte ich bereits vor meiner offiziellen Diagnose angefangen, mich selbst medikamentös zu behandeln. Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung ist durch ein Gefühl der Dringlichkeit gekennzeichnet, eine Verzweiflung, sofort zu bekommen, was auch immer man im Moment haben möchte, ob es nun ein Objekt ist, eine Aktivität oder eine Beziehung. Und es gab noch etwas anderes, für das eine Frau, die mich einige Monate später um Hilfe bat, die richtigen Worte fand. „Es wäre schön, zumindest für eine kleine Weile, eine Pause von mir zu bekommen“, sagte sie, ein Gefühl, das ich nur zu gut verstand. Man sehnt sich danach, den ermüdenden, sich ständig drehenden und ständig herumwirbelnden Gedanken zu entkommen. Direkt am ersten Tag, an dem ich zum ersten Mal von ADHS hörte, nahm ich Ritalin in einer viel höheren als der empfohlenen Anfangsdosis ein. Nach wenigen Minuten fühlte ich mich euphorisch und hellwach und hatte das Gefühl, verständnisvoll und voller Liebe zu sein. Meine Frau fand, dass ich mich merkwürdig verhielt. „Du siehst aus, als würdest du unter Drogen stehen“, lautete ihr prompter Kommentar.

Ich war kein unwissender Teenager auf der Suche nach einem Kick, als ich mir selbst Ritalin verordnete. Ich war bereits in meinen Fünfzigern und ein erfolgreicher, angesehener Hausarzt, dessen Medizinkolumne für ihren Tiefgang gelobt wurde. Ich lege bei meiner medizinischen Arbeit großen Wert darauf, pharmazeutische Produkte zu vermeiden, es sei denn, es ist absolut notwendig. Und es versteht sich von selbst, dass ich meinen Patienten immer davon abrate, sich selbst Medikamente zu verordnen. Ein solch frappierendes Ungleichgewicht zwischen intellektueller Erkenntnis auf der einen Seite und Kontrolle der eigenen Emotionen und des eigenen Verhaltens auf der anderen Seite ist typisch für Menschen mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung.

Ungeachtet dieses Unmaßes an Impulsivität glaubte ich, dass ich Licht am Ende des Tunnels sah. Das Problem lag klar auf der Hand und die Lösung war wunderbar einfach: Bestimmte Teile meines Gehirns waren die Hälfte der Zeit über im Tiefschlaf, aus dem sie lediglich geweckt werden mussten. Die „guten“ Bereiche meines Gehirns würden dann die Kontrolle übernehmen – die ruhigen, vernünftigen, reifen, wachsamen Bereiche. Das hat so nicht funktioniert. In meinem Leben schien sich nicht viel zu ändern. Es gab neue Erkenntnisse, aber was gut gewesen war, blieb auch gut, und was schlecht gewesen war, blieb schlecht. Das Ritalin führte bald dazu, dass ich deprimiert war. Dexamphetamin, ein Aufputschmittel, das mir als Nächstes verschrieben wurde, führte dazu, dass ich wacher war und noch effizienter arbeiten konnte.

Seitdem ADHS bei mir selbst diagnostiziert wurde, habe ich Hunderte Erwachsene und Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung gesehen. Heute denke ich, dass Ärzte und die Verschreibung von Medikamenten bei der Behandlung von ADHS mittlerweile eine übertrieben große Rolle spielen. Was als Problem der...