Longieren - Richtlinien für Reiten und Fahren - Band 6

Longieren - Richtlinien für Reiten und Fahren - Band 6

von: Deutsche Reiterliche Vereinigung e.V. (FN)

FNverlag, 2021

ISBN: 9783885429456

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 14,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Longieren - Richtlinien für Reiten und Fahren - Band 6


 

KAPITEL 1

Allgemeine Grundlagen

Pferd — Longenführer —Ausbilder — Ausbildungsort

Das Longieren bietet die Möglichkeit, die Ausbildung des Pferdes sinnvoll zu ergänzen und gegebenenfalls vorhandene Ausbildungsmängel zu beheben. Der Vorteil liegt in der Möglichkeit, das Pferd aus einiger Entfernung zu beobachten und daraus Rückschlüsse für die weitere Arbeit zu ziehen. Auch beginnt die Ausbildung eines jeden Pferdes neben der Bodenarbeit sinnvollerweise an der Longe.

Für Fahrer ist das Longieren häufig die einzige Möglichkeit, das Pferd zu gymnastizieren und auf das Fahren vorzubereiten.

Beim Voltigieren ist das Team auf das zuverlässige, gleichmäßige Gehen des Pferdes an der Longe angewiesen.

Im therapeutischen Bereich wird viel mit dem Pferd, welches sehr gehorsam sein muss, an der Longe gearbeitet.

Korrektes Longieren erfordert Fachwissen, Erfahrung und Feingefühl. Dieses kann der Longenführer nur durch regelmäßige Fortbildungen erreichen. Die theoretischen Grundlagen zum korrekten Longieren werden in diesen Richtlinien gelegt, das praktische Longieren lernt man aber nur durch Longieren.

1.1 Das Pferd

Kenntnisse über die Bedürfnisse und Eigenschaften der Pferde sind für den Umgang und für das Longieren eine Grundvoraussetzung. Wer das Wesen der Pferde verstanden hat, wird sich dem Pferd gegenüber richtig verhalten und eine positive Verständigung mit ihm erreichen.

1.1.1 Die natürlichen Eigenschaften des Pferdes

Das Pferd ist ein Lebewesen mit Instinkten und Vorerfahrungen, einem besonders ausgeprägten Erinnerungsvermögen und vielen anderen besonderen Eigenschaften, die sich im Laufe seiner Evolutionsgeschichte entwickelt haben. Auch wenn das Pferd seit seiner Domestikation zunächst als Nutztier, später dann für den Einsatz beim Militär von Menschen gehalten wurde und heute vorwiegend die Rolle des Freizeit- und Sportpartners einnimmt, bleiben die natürlichen Eigenschaften prägend für sein Verhalten.

Pferde sind Herdentiere. Der Herdenverband bietet ihnen Schutz und Sicherheit. Deshalb sind Pferde natürlicherweise nicht gern allein. Die Herde wird durch ein erfahrenes Leittier geführt, das in der Regel ohne Auseinandersetzungen anerkannt wird.

Pferde haben innerhalb der Gruppe eine feste Rangordnung. Regeln im Umgang miteinander sichern die Überlebensfähigkeit in der Herde. Rangordnungskämpfe, besonders gut bei heranwachsenden Pferden, aber auch bei neuen Weidepartnern zu beobachten, gehören zum natürlichen Verhalten. Die Position der Überlegenheit wird entweder von dem unterlegenen Tier aufgrund des Verhaltens des dominanteren Pferdes akzeptiert oder jeweils „ausgefochten“. Häufig genügt dazu eine einzige Konfrontation.

Pferde sind Fluchttiere. Die sofortige Flucht gibt dem Pflanzenfresser Pferd seit Urzeiten den sichersten Schutz vor jeder Gefahr. Eines der elementarsten Bedürfnisse des Pferdes ist das nach Sicherheit. Aus diesem Grund sind sie natürlicherweise ständig auf der Hut vor möglicher Gefahr. Nur wenn eine Flucht bei drohender Gefahr nicht möglich ist, wehren sich Pferde durch Schlagen mit den Hufen oder durch Beißen.

Pferde sind ebenso Steppen- und Lauftiere. In ihrem Lebensraum, der Steppe, waren sie ab einer bestimmten Entwicklungsstufe viele Stunden am Tag in ruhiger Bewegung auf Nahrungssuche. Dabei legten sie 30 bis 40 km täglich zurück. Sie waren ständig an der frischen Luft in einem möglichst weitläufigen Umfeld mit guter Sicht. Sie suchten nicht den Schutz in Höhlen oder geschützten Verstecken, weil dort die Fluchtwege eingeschränkt waren.

Sehr gut ausgeprägt ist der Geruchssinn des Pferdes und ebenfalls hoch entwickelt ist das Gehör. Die Sehkraft und besonders das Sichtfeld des Pferdes sind deutlich anders als beim Menschen. Die seitlich am Kopf befindlichen Augen ermöglichen ein sehr weites Blickfeld, fast einen Rund-um-Blick. Das Pferd ist ein ausgesprochener „Bewegungsseher“. Es nimmt besonders gut sich bewegende Dinge wahr, auch wenn sie weit in der Ferne, seitlich neben ihm und sogar schräg hinter ihm sind. Der Tastsinn und die Reizempfindlichkeit der Haut sind sehr sensibel und gut entwickelt.

Die Kommunikation zwischen Pferden erfolgt außer durch hörbare Lautäußerungen insbesondere über die Körpersprache. Eine bestimmte Körperhaltung, ein Gesichtsausdruck oder die Haltung der Ohren sind für andere Pferde unmissverständliche Zeichen.

Pferde sind von Natur aus im Umgang eher gutmütig, auch wenn sie häufig robust miteinander umgehen.

Sie haben ein besonders gutes Erinnerungsvermögen und einen ausgeprägten Ortssinn. Pferde orientieren sich gerne an gewohnten Gegebenheiten und Abläufen, sie halten nach Möglichkeit an Gewohnheiten fest.

In der Regel ist ein Pferd - was die Körpergröße betrifft - im Alter von circa fünf Jahren weitgehend ausgewachsen. Die körperliche Gesamtentwicklung ist jedoch erst mit circa sieben Jahren abgeschlossen.

Bewegung, Licht, Luft und Kontakt zu Artgenossen sind für das Wohlbefinden der Pferde bis heute von besonderer Bedeutung. Bei der Stallhaltung und im täglichen Umgang müssen diese Kriterien besonders beachtet werden. Pferde benötigen ausreichende und abwechslungsreiche Bewegung. Hierzu gehören auch Auslauf im Paddock oder Weidegang.*

1.1.2Die Beziehung zwischen Longenführer und Pferd

Der Umgang mit dem Pferd und das Longieren selbst verlangen vom Longenführer, sich ständig in die Empfindungen und Reaktionen des Pferdes hineinzuversetzen. So kann er versuchen, aus der Perspektive des Pferdes zu beurteilen, ob sein Verhalten angemessen oder die Hilfengebung für das Pferd „verständlich“ ist.

In der Ausbildung - gerade bei jüngeren Pferden - kann der Herdentrieb aber auch positiv genutzt werden, indem ältere, erfahrene Pferde bei der ersten Arbeit am Boden oder an der Longe in der Nähe sind. Weil dieses natürlich nicht immer möglich und auch nicht immer gewollt ist, muss ein Pferd an Situationen, in denen es ohne andere Artgenossen ist, gewöhnt werden. Das gilt zum Beispiel für den Transport, für das Longieren alleine in der Bahn oder das Wegführen von der Gruppe.

Weil Pferde grundsätzlich gutmütig, zutraulich und auch neugierig sind, ist die Kontaktaufnahme durch einen Menschen in der Regel unproblematisch und kann unbefangen erfolgen. Er muss sich jedoch bei allem, was er tut, stets ruhig bewegen. Schnelle Bewegungen können zum Erschrecken und auch zu Abwehrreaktionen führen.

Wie ist die Beziehung zwischen Pferd und Longenführer aus der Sicht des Pferdes einzuordnen? Es ist eher unwahrscheinlich, dass ein Pferd einen Menschen wirklich als „Leittier“ akzeptiert. Das Bedürfnis nach Sicherheit und der Vertrauensaufbau durch positive Erfahrungen können jedoch den entsprechenden Menschen dem Pferd gegenüber in eine ähnliche Position bringen.

Dem Pferd Sicherheit und Vertrauen zu vermitteln gehört deshalb zu den wichtigsten Aufgaben eines Longenführers!

Zu einem guten Verhältnis gehört auch, dass beide Respekt voreinander haben. Damit verbunden ist auch die Frage der Rangordnung. Die Rolle des Ranghöheren, die der Longenführer einnehmen muss, wird nicht durch eine Auseinandersetzung, sondern durch selbstbewusstes, sicheres Auftreten und Handeln bestimmt. Manche Pferde, häufig bedingt durch unsicheres, inkonsequentes oder unangemessenes Verhalten des Longenführers, versuchen ihre Rangordnung innerhalb der Beziehung Mensch/Pferd abzuklären. Die Erziehung zu einem gehorsamen Pferd ist die Grundlage für einen sicheren und erfolgreichen Umgang mit ihm.

Nur ein ruhig, bestimmt und konsequent wirkender und handelnder Mensch wird vom Pferd als ranghöheres Lebewesen akzeptiert.

Der Longenführer soll sich jedoch bei aller Konsequenz positiv auf das Pferd einlassen und sich bemühen, es für die gewünschte Leistung zu motivieren, indem er es ihm so angenehm wie möglich macht. Härte oder Gewalt machen den Longenführer zum „Aggressor“, vor dem das Pferd zu fliehen oder gegen den es sich zu wehren versucht. Unsicheres und halbherziges Verhalten des Longenführers führt ebenfalls zur Unsicherheit beim Pferd.

Akzeptiert das Pferd den Longenführer vertrauensvoll als den Ranghöheren, dann erhöht diese Konstellation die Aufnahmebereitschaft des Pferdes. Sie wirkt so als positiver Verstärker für die Einwirkungsmöglichkeiten des Longenführers auf sein Pferd.

Lob mit der Stimme, Streicheln, Kraulen oder Klopfen am Hals geben dem Pferd im richtigen Moment die Bestätigung, dass alles in Ordnung ist. Ständiges Loben ohne Bezug zu einem bestimmten Verhalten des Pferdes verfehlt seine Wirkung. Ebenso verhält es sich bei der Korrektur in Problemsituationen. Jede Reaktion im Sinne einer „Strafe“ nach menschlichem Verständnis ist eindeutig abzulehnen, weil man bei einem Pferd nicht davon ausgehen kann, dass es wie ein Mensch abstrakt denken kann. Es kann beispielsweise eine heftige Reaktion des Reiters nach einem Springparcours sicher nicht in Verbindung mit Springfehlern bringen, die beim nächsten Mal vermieden werden sollen. Es wird vielmehr dieses Erlebnis in noch schlechterer Erinnerung behalten. Nur wenn ein bestimmtes Verhalten eines Pferdes unmittelbare, für das Pferd nachvollziehbare Konsequenzen hat, wird es sein Verhalten ändern. Der Longenführer muss den Anspruch haben, sein Pferd so positiv zu unterstützen, dass es nicht zu einem „Fehlverhalten“ des Pferdes kommt. Deshalb ist es so wichtig, dass Longenführer bei einer Unstimmigkeit mit dem Pferd innerlich ruhig bleiben. Emotionale Ausbrüche des Longenführers können ein Pferd nur verunsichern.

Am besten...