Praxisbuch forensische Psychiatrie - Behandlung und ambulante Nachsorge im Maßregelvollzug

von: Friedhelm Quernheim, Thomas Schoppenhorst

Hogrefe AG, 2018

ISBN: 9783456958002 , 800 Seiten

3. Auflage

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 52,99 EUR

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Praxisbuch forensische Psychiatrie - Behandlung und ambulante Nachsorge im Maßregelvollzug


 

4 Zur aktuellen Situation im Maßregelvollzug in Deutschland (S. 95-96)
Jürgen L. Müller

4.1 Einleitung

Forensische Psychiatrie ist eingebunden in die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Dies galt immer und gilt natürlich auch weiterhin. Die Entwicklungsphasen des Maßregelvollzugs in den zurückliegenden Jahrzehnten sind wiederholt umfassend beschrieben worden (Nedopil & Müller, 2012; Seifert & Leygraf, 2016). An dieser Stelle seien kurz wesentliche Aspekte wiedergegeben. In den 1980er-Jahren war geradezu eine therapeutische Aufbruchsstimmung zu beobachten. In dieser sehr produktiven Phase wurden neue Einrichtungen gebaut, viele wurden modernisiert und es erfolgte eine deutliche Aufstockung des therapeutischen Personals. 1985 gab es die wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Verhältnismäßigkeit der Unterbringungsdauer zur Vermeidung von überlangen Unterbringungszeiten. In gleich mehreren Bundesländern wurden Maßregelvollzugsgesetze verabschiedet, in denen neben den Eingriffsrechten auch die Rechte der Patienten explizit formuliert wurden. In diesen Jahren gab es einen leichten Anstieg der Einweisungszahlen; in der Zeit von 1984 bis 1994 war bundesweit ein Anstieg der Gewaltdelinquenz zu verzeichnen.

Ab Anfang der 1990er-Jahre kann eine Verwissenschaftlichung und therapeutische Professionalisierung im Maßregelvollzug beobachtet werden; es wurden verbesserte Therapiekonzepte entwickelt, welche auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Maßregelpatienten ausgerichtet waren.

Mitte der 1990er-Jahre setzte ein Aufholprozess ein, der zwar auch durch Zwischenfälle und Anstöße von außen eingeleitet wurde, inzwischen aber auch an eigengesetzlicher Dynamik gewonnen hat. Neben der Verbesserung der Risikobeurteilung und des Risikomanagements kam es zur Einführung der forensischen Institutsambulanzen (ambulante Nachsorge) und einer Förderung der empirischen, auch neurobiologischen Forschung. Einhergehend mit dieser Verbesserung der Patientenversorgung sank die Anzahl intra- und extramuraler Zwischenfälle deutlich. Ausbrüche und Entweichungen, Rückfalldelinquenz sowie Übergriffe während der Behandlung wurden seltener, die Weiterbetreuung bedingt entlassener Patienten in den Institutsambulanzen ließ die Rate an Rückfalldelikten deutlich unter 10 % sinken.

Kehrseite der Medaille ist der Anstieg der Patientenzahlen auf inzwischen etwa 10 000; ein Drittel der Untergebrachten befindet sich länger als 10 Jahre in der Unterbringung. Seit Mitte der 1990er-Jahre kam es zu einem rapiden Anstieg der Einweisungszahlen: in den Jahren 1994 bis 2004 hatte sich die Zahl der jährlich neu gemäß § 63 StGB eingewiesenen Patientinnen und Patienten mehr als verdoppelt. War zunächst davon ausgegangen worden, dies sei die Konsequenz einer vermehrten Einweisung persönlichkeitsgestörter Straftäter, zeigte sich später, dass der Anstieg der Unterbringungszahlen auf die gestiegene Präsenz von schuldunfähigen Rechtsbrechern, also solchen, die zumeist unter einer schizophrenen Erkrankung litten, zurückzuführen war. Die Ursache dafür dürfte kaum in einer generellen Zunahme der Gefährlichkeit schizophrener Patienten gelegen haben. Generell ist kritisch festzuhalten, dass zugleich in dieser Zeit eine Phase einsetzte, in welcher der Maßregelvollzug zunehmend zu einem bevorzugten Instrument der Sicherheit wurde.

Auf der Ebene der einweisenden Gerichte ist in den vergangenen Jahren bundesweit eine gestiegene Zurückhaltung bei der Anordnung einer Maßregel zu beobachten; seit 2005 ist die Einweisungsrate deutlich zurückgegangen, wobei hierfür in erster Linie die Anordnung einer Maßregel in Verbindung mit verminderter Schuldfähigkeit (persönlichkeitsauffällige und sexuell deviante Rechtsbrecher) verantwortlich ist (Seifert & Leygraf, 2016). Die Anordnung der Maßregel bei Schuldunfähigkeit ist hingegen weniger deutlich zurückgegangen; die Einweisungsrate lag 2014 noch erheblich über der des Jahres 1990. Dies bestärkt die Vermutung, „dass der Maßregelvollzug mittlerweile die stationäre Betreuung einer schwer zu behandelnden Gruppe schizophrener Patienten übernommen hat, die mit den Mitteln der derzeitigen allgemein-psychiatrischen Versorgung nicht mehr hinreichend erreicht wird“ (Seifert & Leygraf, 2016, S. 240). Wenn auch die Einweisungsraten erheblich zurückgingen, ist andererseits die Gesamtzahl der gemäß § 63 StGB untergebrachten Patienten bis 2012 kontinuierlich weiter angestiegen, „was auf eine merkliche Zunahme der Unterbringungsdauer in diesen Jahren hinweist“ (Seifert & Leygraf, 2016, S. 240).